Zwischen Schmerz und Triumph
Rückschläge haben Joe Bidens Leben und Karriere geprägt – Mit 77 Jahren steht er vor dem größten politischen Erfolg
WASHINGTON - Joe Biden hat früh davon geträumt, einmal hinter dem berühmten Schreibtisch im Oval Office zu sitzen. Er ist Mitte 20, als ihn die Mutter seiner ersten Frau Neilia nach seinen Karrierezielen fragt und die Antwort bekommt: „Präsident. Präsident der Vereinigten Staaten.“Er soll es mit großem Ernst gesagt haben, kann man in Biden-Biografien lesen. Nun ist er fast am Ziel, am Ende einer langen Laufbahn, in der Triumph und Schmerz immer nah beieinander lagen.
Er ist 29, als er im November 1972 für einen Sitz im US-Senat kandidiert. Ein Außenseiter, der im Duell mit dem Favoriten, einem gestandenen Republikaner, auf scheinbar verlorenem Posten steht. Biden wirbt damit, dass er für Wandel und Zukunft steht, während sein Widersacher die Vergangenheit verkörpere. Als Heranwachsender noch wegen seines Stotterns verspottet, setzt er sich durch. Wenige Wochen nach der Sensation folgt ein schwerer Schicksalsschlag.
Kurz vor Weihnachten ist seine Frau mit den drei Kindern auf einer Landstraße unterwegs. Ihr Kombi prallt mit einem Lastwagen zusammen, Neilia, 30, und die einjährige Tochter Naomi sterben noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Die beiden Söhne, der dreijährige Beau und der zweijährige Hunter, überleben, müssen aber lange in einer Klinik behandelt werden. Biden plagt sich mit Selbstmordgedanken. Seine Schwester holt ihn gedanklich zurück ins Leben. Die Jungs, sagt sie Vertrauten der Familie zufolge, dürften nicht auch noch ihren Vater verlieren.
Seinen Amtsschwur legt er in Beaus Patientenzimmer ab. Um die Söhne abends ins Bett zu bringen, pendelt er an jedem Arbeitstag zwischen Wilmington und Washington, rund 90 Minuten für eine Strecke. Die fährt er auch dann noch, als Beau und Hunter längst erwachsen sind, bis 2008.
Die Treue zur Bahn trägt ihm den Spitznamen Amtrak-Joe ein, nach Amerikas größtem Zugbetreiber. Und einer der Schaffner, dem er häufig begegnete, hat auf dem Wahlparteitag der Demokraten im August geschildert, was für ein feiner Kerl dieser Amtrak-Joe sei. Nachdem Gregg
Weaver, so der Name des Schaffners, eine Herzattacke erlitten hatte, rief Biden an, um zu fragen, wie es ihm gehe, ob er Hilfe brauche. Zu der Zeit war er Vizepräsident und fuhr schon nicht mehr mit dem Zug. Den alten Bekannten hat er dennoch nicht vergessen.
Solche Geschichten prägen das Bild, das Leute von Joseph Robinette Biden jr. haben. Der Menschenfreund. Einer, der Trost spendet und mitfühlt, weil er aus bitterer Erfahrung weiß, was Leid bedeutet. Einer, der sich jedem zuwendet, ohne Allüren. Barack Obama, der Präsident, dessen Stellvertreter er acht Jahre lang war, hat es so formuliert: „Joe lebte nach der Devise, die ihm seine Eltern mit auf den Weg gaben. Niemand ist besser als du, du bist aber auch nicht besser als die anderen.“Geboren am 20. November 1942 in
Scranton, spricht er noch heute bei jeder Gelegenheit von der Industriestadt im Nordosten Pennsylvanias. Von den Scranton-Werten, wie er sie nennt: Zusammengehörigkeitsgefühl, Ehrlichkeit, Bescheidenheit. Dass er den Ortsnamen so oft in seine Reden einstreut, hat natürlich auch einen politischen Grund. Pennsylvania ist ein wichtiger Swing State, dort werden Wahlen entschieden, wie man jetzt wieder sieht. In Wahrheit hat Biden nur neun Kindheitsjahre dort verbracht, ehe die Familie in den Küstenstaat Delaware zog.
Dass er zum Flunkern neigt, Anekdoten aufbauscht oder frei erfindet, ist seine vielleicht größte Schwäche. 1987 wird ihm das zum Verhängnis. In dem Jahr bewirbt er sich zum ersten Mal fürs Oval Office – und muss das Handtuch werfen, noch bevor es richtig ernst wird beim Kandidatenwettstreit
der Demokraten. Er hat bei Neil Kinnock abgekupfert, dem damaligen Chef der britischen LabourPartei, der aus einer Bergarbeiterfamilie stammt und in seinen Worten als erster Kinnock seit tausend Generationen studieren konnte. Biden will eine ähnliche Geschichte erzählen, eine optimistische Geschichte über den sozialen Aufstieg dank Bildung. Wobei sein Vater eben nicht untertage malochte, sondern mit Autos handelte. Nachdem er komplette Redepassagen Kinnocks übernommen hat, wird der aufstrebende Politiker des Plagiats überführt und muss aufgeben. 1988 wäre er fast an einem Aneurysma, einer krankhaften Gefäßausstülpung, gestorben.
Beim zweiten Anlauf hat er parteiintern keine Chance gegen Überflieger Obama. Über den sagt er im Januar 2007, dass man es mit dem ersten
Mainstream-Afroamerikaner zu tun habe, der sich zu artikulieren verstehe, „hell im Kopf und sauber und ein gut aussehender Bursche“. Ein typischer Biden-Fauxpas. Auch wenn es wohl nicht so gemeint war, klingt es dermaßen herablassend, dass viele den Kopf schütteln über den Mann, der im Gestern zu leben scheint. Obama nimmt es ihm nicht nur nicht übel. Er verhilft Biden zu einem unverhofften Karrieresprung, als er ihm die Kandidatur für die Vizepräsidentschaft anträgt. Bidens außenpolitische Expertise gibt dafür den Ausschlag. Als Ex-Chef des Senatsausschusses für Auswärtiges kann Biden auf ein Geflecht persönlicher Beziehungen zu Politikern in aller Welt zurückgreifen, wie es nur wenige in Washington zu knüpfen verstehen.
Im Kabinett gehört er zu den Skeptikern, wenn es um Interventionen
in der Ferne geht. Vielleicht auch deshalb, weil er, wie viele andere im Senat auch, George W. Bush grünes Licht für den Einmarsch im Irak gegeben hatte. Aus dem Fiasko, das folgte, zieht er seine Lehren. Während die Außenministerin Hillary Clinton einem Eingreifen in Libyen das Wort redet und den zögernden Präsidenten letztlich überzeugt, warnt Biden vor dem Chaos, das der Sturz Muammar al-Gaddafis auslösen könnte. Mit Blick auf Afghanistan plädiert er für gezielte Aktionen gegen Terrornetzwerke und nicht für einen andauernden Militäreinsatz größeren Stils, um die Taliban abzuwehren.
Bevor ein Kommando von Navy Seals das Anwesen Osama Bin Ladens in Abbottabad stürmt, rät Biden im kleinen Kreis davon ab. Falls es schiefgehe, zitieren ihn Eingeweihte, könne der Staatschef seine Hoffnungen auf eine Wiederwahl im Jahr 2012 begraben. Und Obama, der bei Beratungen Wert auf präzise Wortmeldungen legte, soll ihm, so berichtet es der „New Yorker“, gleich zu Beginn ironisch zur Effizienz ermahnt haben. „Ich will deine Meinung, Joe, aber ich will sie in Zehn-MinutenPortionen, nicht in Sechzig-MinutenPortionen.“
Dann im Frühjahr 2019, Bidens dritter Anlauf in Richtung Weißes Haus. Diesmal präsentiert er sich als der Lebens- und Regierungserfahrene, der zwar weder rhetorische Glanzlichter setzt noch kühne Visionen entwirft, bei dem man aber kein Risiko eingeht. Und er gibt sich als Garant der US-Demokratie. „Kampf um die Seele der Nation“, steht auf seinem Wahlkampfbus. Nach dem Aufmarsch der Neonazis in Charlottesville, nachdem US-Präsident Donald Trump die Rechtsradikalen auf eine moralische Stufe mit linken Gegendemonstranten stellte, habe er sich entschlossen, seinen Hut in den Ring zu werfen, sagt der Veteran.
Im Rennen gegen jüngere, eloquentere Parteifreunde macht er zunächst keine gute Figur, auch nicht im Duell mit dem linken Senator Bernie Sanders. Dieser ist zwar noch älter als Biden, wirkt aber wesentlich frischer und vor allem leidenschaftlicher. Einige Kommentatoren schreiben Biden ab, als er in Iowa und New Hampshire, auf den ersten Etappen, enttäuscht. In South Carolina bewahren ihn afroamerikanische Wähler, die dort an der Parteibasis den Ton angeben, vor dem Aus. Es liegt auch, wahrscheinlich ganz wesentlich, an seiner Nähe zu Barack Obama. Was folgt, ist ein glänzendes Comeback.