Daheim auf Platte
Eine Unterführung dient wohnsitzlosen Jugendlichen in Stuttgart als Zuflucht – Doch das Leben auf der Straße ist rau und Glück nicht von Dauer
Um Mitternacht torkelt ein Betrunkener in ihre Welt, Schnapsflasche in der Hand, das Gesicht eine fahle Fratze. Er schreit: „Hier soll Dunkelheit herrschen!“
Zwölf Gestalten schrecken aus Schlafsäcken hoch, den Kerl im Blick, der auf sie zukommt, die Flasche drohend erhoben. Bevor er zuschlagen kann, rappeln sich zwei von ihnen auf und stellen sich in den Weg. Der Fremde stutzt, verschluckt den nächsten Schrei und taumelt davon.
„Hall of Fame“nennen sie ihren Unterschlupf, eine Unterführung in Bad Cannstatt zwischen Mercedesmuseum und der Festwiese des Wasen. Eine Gegenwelt, in der die Luft steht, klebrig vom Dunst des nahen Neckars. Unter der Betondecke schlagen Neonröhren eine Schneise durch das Schwarz und lassen Graffiti an den Wänden leuchten. Ein Ort, den Passanten schnell hinter sich lassen, zugleich ein Dach, das ein paar verlorene Menschen beschirmt. Rund 37 000 Straßenkinder und junge Obdachlose soll es in Deutschland geben, schätzt das Deutsche Jugendinstitut. Missachtung, Misshandlung, Missbrauch haben sie aus ihren Elternhäusern getrieben. Ein Dutzend von ihnen ist hier untergekrochen.
Wer ein paar Tage und Nächte mit ihnen verbringt, lernt Lebensläufe kennen, die sich auf bestürzende Weise ähneln. Einen, den sie Shadow nennen, hat es am frühesten erwischt: Seit er elf ist, lebt er auf der Straße. Punks haben ihn großgezogen, gezeigt, wie man Platte macht, schnorrt, überlebt.
Er sitzt an die Wand gelehnt. Sein Blick starr. Ein dürrer Mann mit spitzer Nase. An seinem Ohr beult sich ein Geschwür. Dunkle Haare fallen ins Gesicht.
„Er hat Drogen gemischt, die man nicht mischen soll“, sagt das Mädchen, das sie Lurchi nennen und das neben ihm hockt.
Er grinst. Den restlichen Tag wird er warten, dass es ihm besser geht. Warten – das machen sie hier alle. Auf was, weiß keiner. Essen. Warten. Trinken. Warten. Rauchen. Warten. Stunden, Tage, Monate, ein Leben lang. Warten an einem Ort, an dem die Zeit nicht zu vergehen scheint – nur die Menschen.
„Der Winter ist böse“, murmelt Shadow.
„Also ich werd den Winter auf der Straße verbringen“, sagt das Mädchen, das sie Klinge nennen. „Seh ich aus, als würd’ ich wieder nach Hause gehen?“
Klinges Eltern leben getrennt. Der Vater Alkoholiker, die Mutter in eigene Probleme vertieft. „Einmal bin ich nachts wegen Alpträumen zu ihr gegangen“, sagt Klinge. „Sie hat gesagt, ich soll gehen. Alpträume hätte sie selbst.“
Seit fünf Wochen lebt Klinge in der Hall of Fame. Seit wenigen Tagen sind sie und der Mann, den sie Ide nennen, ein Paar. Ide ist mit Abstand der Älteste der Gruppe, seit dreißig Jahren auf Platte. „Er ist tiefgründig und bringt mich zum Lachen“, schwärmt Klinge, „ich fühl mich wohl bei ihm“Sie hat in ihm gefunden, was obdachlose Jugendliche laut der Stiftung „Off Road Kids“suchen: Geborgenheit.
Seit er 16 ist, lebt Ide auf der Straße. Der Vater Alkoholiker, der „elf Kinder in die Welt gesetzt und sich um keins gekümmert hat“. Der Stiefvater ebenfalls Alkoholiker, der Frau und Sohn prügelte. Ide weiß: „Obdachlos sein ist mein Schicksal.“Zu seinem Leben gehört die Unsichtbarkeit. Die Menschen meiden seinen Blick, wenn er in der Einkaufsstraße schnorrt. Tippen beim Vorbeigehen auf ihren Handys oder starren geradeaus. Als würde er nicht existieren. Kommt jemand auf ihn zu, dann wegen Maggie, seiner Hündin. Manche fragen nach dem Wohlbefinden – von Maggie. Andere schenken Essen – für Maggie. „Ich könnt’ verhungern. Das wär’ denen egal“, sagt Ide.
Klinges Bein liegt auf seinem Schoß. Narben übersähen ihre Haut. Dazwischen klaffen neue Schnitte. Sie sind verkrustet, tiefrot, manche entzündet. Früher hat sie sich beinahe täglich geritzt. Die frischen Wunden sind die ersten seit Wochen. Ide streicht Salbe drüber.
„Ich habe mich früher auch geschnitten. Mit rostigen Nägeln“, sagt er. „Nur so konnte ich noch was fühlen.“Lange her, dass seine schulterlangen Haare keine grauen Strähnen hatten, die Augen noch Glanz besaßen, das Lächeln mehr Zähne. Bessere Tage? Vielleicht ja, vielleicht nein. Was unterscheidet gute von schlechten Tagen, wenn alle gleich sind.
Klinge holt Ide mit einem Box in die Rippen in die Realität zurück. Sie schmiegt sich an ihn. Rosige Haut streicht über graue Bartstoppeln. Beide lächeln wie nur Liebende lächeln.
„Beiß ihn, schlag ihn, gib ihm Tiernamen!“, scherzt Shadow. „Schmetterling“, grinst Ide. „Böser Schmetterling“, erwidert Shadow.
Die Hall of Fame ist kein Ort für gute Zeiten, nur dann und wann eine Nische für einen glücklichen Moment. Graffiti auf Betonwänden. Codes, Karikaturen, kunterbuntes Chaos, das der Hall einen besonderen Touch gibt, doch es sind Menschen, die ihr Bedeutung verleihen. Da ist Lurchi, die auf ihrer Ukulele klimpert. Oder Speedy, der keine Beine mehr hat, wo sie geblieben sind, traut sich keiner zu fragen. Oder Thomas, das Militärmesser griffbereit im Gürtel – um Raviolidosen zu öffnen. Was sonst?
„Klinge, hast du Abschminktücher?“, fragt Lilly, mit sechzehn Jahren die Jüngste von allen. Sie trägt Klinges Hose, ihren Pullover, sogar ihre Unterwäsche. Und Klinge – die trägt den gemeinsamen Rucksack. Auf der Straße hilft man sich. Lilly braucht viel Hilfe. Die Feuchttücher sind leer. Abschminken muss sie sich trotzdem. Sie spuckt sich in die Hand und reibt in ihrem Gesicht herum. Ihre Finger wandern über Augenringe und hängende Mundwinkel, Lidschatten und Wimperntusche vermischen sich zu Schlieren – egal. Sie schmiert Klinges Make-up auf verschorfte Wunden. Vergangene Woche hat sie jemand im Park geschlagen. „Halb so schlimm“, meint sie. „Man gewöhnt sich an sowas.“Seit einem halben Jahr ist sie obdachlos. Nach dem Tod der Mutter kümmerte sich niemand mehr um sie. Auf der Straße teilen andere mit ihr Essen, Tabak, Zeit, geben Tipps, wie man schnorrt, passen auf, wenn sie schläft. Lilly reizt das aus. Kannst du den Rucksack tragen? Kann ich das essen? Kann mir jemand ne Kippe drehen?
„Wer rauchen kann, kann selber drehen“, sagt Anna und lacht schallend, als sie zwischen Lillys Fingern die Selbstgedrehte sieht, die an ein geplatztes Würstchen erinnert. Seit einem halben Jahr macht Anna Platte. „Mir ging’s echt dreckig, aber die Leute hier bauen mich wieder auf“, sagt sie. Ihr Vater ist tot – Überdosis. Ihre Mutter heroinsüchtig. Drogen spritzte sie sich auch während der Schwangerschaft. Mit zwei Monaten fiel Anna aus dem zweiten Stock, überlebte, kam ins Kinderheim, dann in eine Pflegefamilie. Als sie zwölf ist, wird sie vergewaltigt. In den Jahren danach versucht sie mehrmals, sich umzubringen. Hohe Brücken, Bahngleise, alles verlockender als das Leben. Unzählige Streitereien mit der Pflegefamilie, dann Straße. Eines Nachts überfällt sie ein Unbekannter. Notfall-OP. Ein Rückenwirbel ist zertrümmert.
Neben ihr besprüht sich ihr Freund Mika mit so viel Deo, dass man fürchten muss, er könnte in Flammen aufgehen, wenn er sich seine Kippe anzündet. Beide haben die Haare blau gefärbt, posten HerzEmojis per WhatsApp. Sie lächelt ihn an und verbeißt sich in seiner Schulter. „Aua Schatz!“, lacht er. Sie beißt fester zu. „AAHH SCHAATZ!“. Ihre Art, „ich liebe dich“zu sagen.
„Entschuldigung, darf ich euch ein paar Flyer geben?“, fragt Ralph Schertlen. Sein weißes Hemd strahlt ihnen entgegen. Keine Reaktion. Er drückt Anna einen Stapel loser Blätter in die Hand, auf denen steht, dass er zur Wahl des Oberbürgermeisters von Stuttgart antreten will. Lächelnd blickt er sich um, sieht auf zwei versiffte Sofas, ein Dutzend Isomatten, muffige Schlafsäcke, Plastikflaschen und Mozzarella im Dreck, dazwischen verstreut unzählige Kippen.
„Ich bin auch nicht so abgehoben“, sagt er. „Ich rede lieber mit euch als mit irgendwelchen Professoren“, fügt er hinzu.
Interessiert keinen. Nur Anna erbarmt sich.
„Wir hätten gerne ein Dixi“, sagt sie und fordert es aus gutem Grund, denn inzwischen müssen sie auf dem Wasen schon Umwege gehen, um nicht in Hinterlassenschaften eines Vorgängers zu treten.
„Wenn ich Oberbürgermeister bin, wird sich die Stadt darum kümmern“, verspricht Schertlen.
Zehn Tage später kümmert sich die Stadt tatsächlich um die Obdachlosen. Ein Polizeiwagen fährt vor. Ein Beamter baut sich vor ihnen auf. „Haben Sie eine Genehmigung, sich hier häuslich einzurichten?“, fragt er. „Nicht? Dann räumen Sie die Unterführung.“
Inzwischen sind Ide und Klinge und alle anderen wie vom Winde verweht. Eine Frage der Zeit, bis hier wieder entwurzelte Kinder und Jugendliche unterkriechen. Solche Fluchtwinkel sind gefragt, denn mit jedem Jahr landen in Deutschland wieder 2300 von ihnen auf der Straße.