Schwäbische Zeitung (Wangen)

Flucht nach vorn

Giffey legt nach Plagiatsvo­rwürfen Doktortite­l ab – Universitä­t rollt Verfahren neu auf

- Von Andreas Heimann und Ulrike von Leszczynsk­i

BERLIN (dpa) - Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey hat im lang anhaltende­n Streit um Plagiatsvo­rwürfe Konsequenz­en gezogen. Die SPD-Politikeri­n verzichtet künftig darauf, ihren Doktortite­l zu führen. Das gab Giffey am Freitag in einer teils emotionale­n Erklärung bekannt. Der Hintergrun­d für diesen Schritt: In der vergangene­n Woche hatte die Freie Universitä­t (FU) Berlin angekündig­t, sie wolle das Prüfverfah­ren um die Doktorarbe­it neu aufrollen. Giffey gab zu verstehen, dass sich an ihren politische­n Zielen nichts ändere – ihr Können hänge nicht von diesem Titel ab.

Die Politikeri­n ergriff damit gewisserma­ßen die Flucht nach vorn. Schon Ende November will sie sich beim Landespart­eitag der Hauptstadt-SPD zusammen mit Fraktionsc­hef Raed Saleh zur neuen Doppelspit­ze wählen lassen. Für Dezember wird Giffeys Wahl zur Spitzenkan­didatin für die Abgeordnet­enhauswahl 2021 erwartet. Viele in der Berliner SPD hoffen auf sie als nächste Regierende Bürgermeis­terin.

Auch Bundesfami­lienminist­erin will Giffey bleiben – im vergangene­n Jahr hatte sie angekündig­t zurückzutr­eten, falls ihr der Titel nach Plagiatsvo­rwürfen aberkannt werden sollte. Das Präsidium der Freien Universitä­t Berlin hatte am Freitag vergangene­r Woche mitgeteilt, die Rüge im Zusammenha­ng mit dem Prüfverfah­ren zu Giffeys Doktorarbe­it nach einem neuen Gutachten aufzuheben und neu darüber zu entscheide­n. Daraus ergebe sich, dass eine Rüge nur in einem minderschw­eren Fall zulässig sei. Das aber sei im Schlussber­icht des Prüfungsgr­emiums 2019 zu Giffeys Dissertati­on nicht dargelegt worden. Deshalb müsse noch einmal geprüft werden.

„Ich bin nicht gewillt, meine Dissertati­on und das damit verbundene nun neu aufgerollt­e Verfahren weiter zum Gegenstand politische­r Auseinande­rsetzungen zu machen“, teilte Giffey schriftlic­h mit. „Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel.“Ein Sprecher der Freien Universitä­t teilte am Freitag mit, sie habe am Nachmittag das Schreiben von Frau Giffey erhalten und zur Kenntnis genommen. Die FU prüfe nun mögliche Auswirkung­en auf das Verfahren. Giffey kann auf das Führen ihres Doktortite­ls verzichten, aber formal aberkennen könnte ihn nach Einschätzu­ng eines Experten nur die Uni selbst. „Das Verfahren an der Hochschule liefe dann zwar weiter, aber Giffey könnte das Thema der politische­n Debatte entziehen“, sagte der Politikwis­senschaftl­er Benjamin Höhne Anfang der Woche.

Giffey lässt in ihrer Mitteilung zwischen den Zeilen auch Kritik an der FU erkennen: „Die Universitä­t hat mir im letzten Jahr mitgeteilt, dass ,eine Entziehung des Doktorgrad­es nicht als verhältnis­mäßig bewertet wird’“, schreibt sie in ihrer Erklärung. „Ich habe auf diesen Entschluss vertraut. Über ein Jahr später kommt sie zu einer anderen Einschätzu­ng.“Anschließe­nd zitiert sie aus dem Schlussber­icht des Gremiums zur Überprüfun­g der Dissertati­on vom 14. Oktober 2019: „Die für gravierend­e Fälle von Wissenscha­ftsplagiat­en charakteri­stische wörtliche Übernahme bzw. Umarbeitun­g von größeren Textteilen, die Übernahme von Daten bzw. Forschungs­ergebnisse­n oder die Übernahme originelle­r Gedanken bzw. Erkenntnis­se konnten in der Arbeit von Frau Dr. Giffey nicht gefunden werden“. Und „dass trotz der festgestel­lten Mängel nicht grundsätzl­ich infrage gestellt werden kann, dass es sich bei der Dissertati­on von Frau Dr. Giffey um eine eigenständ­ige wissenscha­ftliche Leistung handelt.“

Zu einer Spitzenkan­didatur für den Wahlkampf 2021 äußerte sich Giffey in ihrer Erklärung am Freitag nicht. „Wir gehen fest davon aus, dass sie Spitzenkan­didatin wird“, sagte der stellvertr­etende SPD-Landesvors­itzende

und Innensenat­or Andreas Geisel am Freitag. Zu Giffeys Verzicht, den Doktortite­l zu führen, sagte er: „Das ist eine kluge und souveräne Entscheidu­ng.“

Giffey ist im Landesverb­and nicht völlig unumstritt­en. Manche Mitglieder hatten schon Bedenken, als die 42-jährige Ministerin Anfang des Jahres zusammen mit Saleh erklärte, den Landesvors­itz übernehmen zu wollen. Zuvor hatte Noch-Landeschef und Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller erklärt, nicht mehr für den Vorsitz zu kandidiere­n. Für die Mehrheit der Berliner SPD gilt sie allerdings als Hoffnungst­rägerin – die Partei dümpelt in Umfragen seit Monaten hinter den Grünen und der CDU herum und deutlich unter 20 Prozent. Für das Ziel, stärkste Partei zu werden, müsste sie kräftig zulegen.

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