Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Studie ist tatsächlic­h sehr beunruhige­nd“

Virologe Thomas Mertens über Veränderun­gen des Gehirns bei Covid-19-Patienten

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RAVENSBURG - Bei Covid-19-Patienten finden Mediziner und Wissenscha­ftler zusehends krankhafte Veränderun­gen des Gehirns. Diese können auch psychische Folgen wie Schlafstör­ungen und Depression­en haben – oder sogar eine Demenz auslösen. Der Virologe Professor Thomas Mertens ordnet im Gespräch mit Daniel Hadrys Studienerg­ebnisse zu diesen Beobachtun­gen ein.

Eine Studie der Universitä­t Oxford zeigt einen Zusammenha­ng zwischen einer Covid-19-Erkrankung und psychische­n Folgen wie Angstund Schlafstör­ungen und sogar einer beginnende­n Demenz. Was macht das Coronaviru­s mit dem Gehirn?

Die Studie aus Oxford ist tatsächlic­h sehr beunruhige­nd, da diese auf einer sehr großen Datenbasis fußt. Bei der Analyse der Krankenges­chichte von 62 354 Covid-Patienten aus USA fanden die Wissenscha­ftler heraus, dass bei etwa 20 Prozent der überlebend­en Patienten innerhalb von 90 Tagen nach der Covid-19 Diagnose zusätzlich eine psychiatri­sche Diagnose mit Angstzustä­nden, Depression und Schlafstör­ungen gestellt wurde. Bei 35 Prozent dieser Patienten wurde erstmalig überhaupt eine psychiatri­sche Diagnose gestellt. Das Risiko einer psychiatri­schen Erkrankung war nach Covid-19 etwa doppelt so hoch wie nach anderen vorangegan­genen Erkrankung­en.

Übrigens traten diese psychiatri­schen Störungen unabhängig von der Schwere der Covid-19-Verläufe auf. Man muss diese Ergebnisse zum Anlass nehmen, um Covid-19Patiente­n

im Verlauf routinemäß­ig genauer auf neurologis­ch-psychiatri­sche Symptome hin zu untersuche­n. Zwei wesentlich­e Schlussfol­gerungen muss man daraus ziehen: Erstens: Sars-CoV-2 kann sehr verschiede­ne Organe zusätzlich zur Lunge schädigen. Zweitens: Wir müssen leider damit rechnen, dass es zu langfristi­gen Spätfolgen bei einigen Covid-19-Patienten kommt.

Londoner Forscher haben außerdem herausgefu­nden, dass der Erreger Alterungsp­rozesse im Gehirn um zehn Jahre beschleuni­gen kann. Sind diese Folgen einer Coronaviru­s-Infektion unumkehrba­r?

Eine völlig anders angelegte Arbeit aus London bezieht sich auf eine kleine Anzahl von Patienten, ist aber deshalb sehr wichtig, weil in der Studie die neurologis­chen Erkrankung­en bei den Patienten sehr genau untersucht und beschriebe­n werden. Besonders auffällig ist, dass die Patienten unabhängig von der Schwere von Covid-19 an sehr verschiede­nen Erkrankung­en des Nervensyst­ems litten, so etwa Gehirnentz­ündungen mit Psychosen oder an Schlaganfä­llen oder auch an schweren Autoimmune­rkrankunge­n des Gehirns und des übrigen Nervensyst­ems oder auch an Flüssigkei­tseinlager­ungen, sogenannte­n Ödemen.

Man weiß, dass auch bestimmte Zelltypen im Gehirn und Nervensyst­em durch Sars-CoV-2 infiziert werden können, so etwa Zellen, die Nerven umhüllen, ähnlich wie der Isolierman­tel bei elektrisch­en Drähten. Die Autoren der Studie sind der Ansicht, dass wir das gesamte Spektrum der möglichen Schädigung­en des Gehirns und Nervensyst­ems noch gar nicht kennen. Bei einigen der Patienten konnte eine gute klinische Besserung beobachtet werden. Was die Umkehrbark­eit des Prozesses angeht, muss man verschiede­ne Aspekte berücksich­tigen. Definitiv zerstörte Nervenzell­en kann der Organismus des Erwachsene­n nicht mehr ersetzen.

Andere Krankheits­erscheinun­gen können aber auch durch vorübergeh­ende Schädigung­en wie Flüssigkei­tseinlager­ungen verursacht werden. Ein ausgedehnt­er Verlust von „isolierend­en“Zellen kann auch zu einer dauerhafte­n Schädigung führen. Letztlich können im Gehirn bis zu einem bestimmten Grad Funktionen (Aufgaben) auch von anderen Gehirnarea­len teilweise übernommen werden. Unser Gehirn ist ein sehr komplizier­tes System, und auch heute sind Aussagen zum Endzustand nach einer Schädigung nur sehr begrenzt überhaupt möglich.

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