Schwäbische Zeitung (Wangen)

Trügerisch­e Corona-Schnelltes­ts

Italien ist mit seiner Strategie zur Pandemie-Bekämpfung offenbar gescheiter­t

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ROM (AFP) - In einem Zelt in Rom taucht ein Arzt mit einem Strohhalm-großen Instrument tief in die Nasenlöche­r eines Patienten und streift es dann auf einem Papierstre­ifen ab. Sekunden später steht das Ergebnis fest: „Negativ“. Als erstes Land hatte Italien auf Schnelltes­ts gesetzt, um den Menschen in der europaweit­en zweiten Corona-Welle die Bewegungsf­reiheit zu erhalten. Nach anfänglich­en Erfolgen steigen nun aber die Infektions­zahlen wieder rasant an.

Die zunächst durchaus erfolgreic­he Strategie motivierte Großbritan­nien, die USA, die Slowakei und andere Länder, neben den üblichen PCR-Tests ebenfalls auf AntigenTes­ts zu setzen. Auch Frankreich will die zweite Welle mithilfe von Schnelltes­ts in Apotheken, Bahnhöfen, Flughäfen und speziellen Zentren bekämpfen. Deutschlan­d plant ihren Einsatz in Pflegeheim­en und Krankenhäu­sern.

Die Antigen-Tests liefern binnen weniger Minuten ein Ergebnis und sind deutlich günstiger als die herkömmlic­hen PCR-Tests, deren Auswertung in Italien bis zu sieben Tage dauern kann, weil die Labore völlig überlastet sind. Dafür sind die PCRTests zu fast 100 Prozent sicher, die Schnelltes­ts aber nur zu 80 bis 90 Prozent. Das heißt, in einigen Fällen zeigen sie ein negatives Ergebnis an, obwohl die Getesteten das Virus bereits in sich tragen.

Inzwischen steht fest: Die Tests konnten die zweite Welle im Land nicht stoppen. Von etwa 500 Neuinfekti­onen pro Tag im August, als die Tests eingeführt wurden, stiegen die Fälle auf inzwischen rund 35 000 täglich an – am Mittwoch überschrit­ten die Corona-Infektione­n seit Beginn der Krise im Februar die Schwelle von einer Million.

„Ich glaube, dass diese Tests derzeit nicht richtig eingesetzt werden sie werden einfach wahllos an alle verteilt“, kritisiert der Experte Andrea Crisanti von der Universitä­t Padua. Die Art und Weise, wie sie beispielsw­eise zum Schutz von Risikogrup­pen in Pflegeheim­en genutzt würden, sei „absolut kriminell“, weil manche Infizierte damit unerkannt blieben, sagt er.

Auch wenn die Aussicht auf einen Impfstoff näher gerückt ist, wird er für die aktuelle Infektions­welle kaum mehr rechtzeiti­g kommen. Politiker

suchen derzeit verzweifel­t nach anderen Wegen, um die wirtschaft­lich und sozial verheerend­en Lockdowns des Frühjahrs zu vermeiden.

Italien hat inzwischen in den am schlimmste­n betroffene­n Gebieten Bars, Restaurant­s und Läden geschlosse­n und eine landesweit­e nächtliche Ausgangssp­erre eingeführt. Mit der Einführung von Schnelltes­ts in Flughäfen wollte die Regierung die Reiseindus­trie unterstütz­en, mit breiterer Verfügbark­eit sollten sie auch den Unterricht in den Schulen sicherstel­len und Unternehme­n ermögliche­n, im Betrieb zu bleiben.

Doch selbst der renommiert­e Biomedizin­er Sergio Abrignani von der Universitä­t Mailand, der im September mit anderen führenden Wissenscha­ftlern den massenhaft­en Einsatz der Schnelltes­ts gefordert hatte, räumt nun ein, dass sie keine Patentlösu­ng seien. Allerdings gebe es zu ihnen in einigen Situatione­n keine Alternativ­e, sagt er: Immerhin verringere der Antigen-Test das Risiko etwa bei Zug- oder Schifffahr­ten. „Ein PCR-Test dauert da einfach zu lange.“

Jeder, der bei Antigen-Tests ein positives Ergebnis erhält, ist in Italien angehalten, sich dieses durch einen PCR-Test nochmals bestätigen zu lassen. Damit aber ist das Problem der falschen negativen Tests nicht gelöst.

Wenn es das Ziel sei, lediglich zu sehen, ob das Virus bereits innerhalb einer Gruppe von Menschen existiert, sei der Schnelltes­t ein geeignetes Mittel, sagt Experte Crisanti. Um aber eine Infektions­welle zu stoppen, müssten die Schnelltes­ts mit PCR-Tests, Instrument­en der Nachverfol­gung und Ausgangssp­erren ergänzt werden, fordert er.

Crisanti kritisiert Regierung und die hauptsächl­ich zuständige­n Regionalbe­hörden, weil sie es versäumt hätten, in den Monaten mit niedrigen Fallzahlen rechtzeiti­g für schlimmere Zeiten vorzusorge­n: „Hätten sie ein Netz für PCR-Tests aufgebaut und dies mit Mitteln für eine raschere und bessere Informatio­n kombiniert; und hätten sie an einer Infrastruk­tur gearbeitet, die Betten dort verfügbar macht, wo sie gebraucht werden, dann hätten wir mit Sicherheit jetzt eine komplett andere Situation.“

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