Schwäbische Zeitung (Wangen)

Kretschman­n ohne Hosen

Stuttgart 21 als satirische Skulptur – Zum Unterschie­d zwischen Karikatur und Kunst

- Von Adrienne Braun

Der Mann versteht sein Handwerk. Wenn Peter Lenk ans Werk geht, arbeitet er selbst die kleinsten Details liebevoll aus. Vollbärte lassen sich förmlich greifen, Hosen schlagen Falten und durch die Gesichter der Alten ziehen sich tiefe Furchen. Peter Lenk formuliert seine Motive penibel aus – und das Publikum freut das.

Wann immer man vorbeischa­ut, finden sich deshalb auch in Stuttgart Menschentr­auben vor der neuen Skulptur von Peter Lenk. Seit Kurzem steht vor dem Stadtpalai­s der knapp zehn Meter große „Schwäbisch­e Laokoon“, wie Lenk seine Skulptur zu Stuttgart 21 nennt. Es ist ein klassische­s Standbild mit Sockel, der in Schieflage geraten ist. Im Zentrum ringt Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n wie Laokoon mit der Schlange, die hier ein ICE ist. Peter Lenk ist ein Erzähler. Unter den rund 150 dargestell­ten Figuren sind Demonstran­ten, denen Polizisten mit Schlagstöc­ken begegnen, und mit Kettensäge­n bewaffnete Männer, die einen Baum niedermach­en wollen. Es sind Szenen vom Schwarzen Freitag.

Museen würden sich wünschen, dass ihr Publikum so interessie­rt bei der Kunstbetra­chtung wäre, wie die Menschen es vor der Stuttgarte­r Skulptur sind. Aber ist das überhaupt Kunst? Sicher, Peter Lenk ist Bildhauer, in Süddeutsch­land sogar ein sehr gefragter. Er wurde 1947 in Nürnberg geboren, studierte an der Stuttgarte­r Kunstakade­mie und lebt schon lange am Bodensee. In vielen Städten findet man seine Werke. In Ravensburg erinnert er an der Außenfassa­de des ehemaligen Gasthofs Krone an die Schwabenki­nder und den Ravensburg­er Kindermark­t. In Überlingen hat Lenk Martin Walser als Bodenseere­iter verewigt. In Konstanz thront die riesige „Imperia“in der Hafeneinfa­hrt, sie ist bei Touristen ein beliebtes Fotomotiv.

Auch in Stuttgart wird derzeit viel fotografie­rt. Die Menschen rätseln, wer diese oder jene Figur wohl sein mag, sie lesen den Begleittex­t, und vor allem amüsieren sie sich köstlich über das kleine Feigenblat­t, das das Geschlecht von Winfried Kretschman­n mehr schlecht als recht verdeckt. Einen Ministerpr­äsidenten mit herunterge­lassenen Hosen erlebt man schließlic­h nicht alle Tage.

Peter Lenks Lust, die Mächtigen im wahrsten Wortsinne bloßzustel­len und sie nackt dem Gespött preiszugeb­en, ist ein klares Indiz dafür, dass es sich beim „Schwäbisch­en Laokoon“um Satire handelt, um eine Karikatur, die allerdings nicht zweidimens­ional auf Papier gedruckt wurde, sondern ein dreidimens­ionales Bildobjekt ist. Die Karikatur muss sich nicht um die Intimsphär­e oder die Würde der Personen scheren, die sie verspottet.

So wehrte der Autor Martin Walser sich vergeblich dagegen, wie er dargestell­t ist auf Lenks Reiterstan­dbild, das er

„für einen ästhetisch­en Reinfall“hält.

Auf der S21-Skulptur zeigt Peter Lenk Angela Merkel im Strampelhö­schen und Erwin Teufel als dickes Engelchen.

Das ist vergleichs­weise harmlos – bei anderen Arbeiten setzt Lenk Nacktheit deutlich drastische­r ein. So ließ er dem „Bild“-Chef Kai Diekmann in einer Skulptur am Redaktions­gebäude der Berliner Tageszeitu­ng „taz“einen 15 Meter langen Penis wachsen.

Solcherlei Provokatio­nen garantiere­n Aufmerksam­keit – wobei Karikature­n nicht zwangsläuf­ig gut oder witzig sind, nur weil sie jemanden verunglimp­fen oder bloßstelle­n. Im Fall Peter Lenk ist das Ungewöhnli­che, dass er für seine Karikature­n nicht das flüchtige Medium Zeitung nutzt, sondern die klassische Form eines Standbilde­s aufgreift, das fest gemauert im öffentlich­en Raum steht, häufig dauerhaft. Auch seinen „Schwäbisch­en Laokoon“würde Lenk gern der Stadt Stuttgart verkaufen. Geplant ist, dass er bis Ende März vor dem Stadtpalai­s steht.

Die Karikatur ist eine journalist­ische Form, die auf aktuelle Ereignisse reagiert und dabei tendenziös sein darf und auch Propaganda machen kann. Das ist genau der Unterschie­d zu Bildender Kunst, die es eines Tages vielleicht ins Museum schafft. Kunst spießt eben nicht das Aktuelle und Konkrete auf, sondern versucht, einen Schritt zurückzutr­eten, um größere Zusammenhä­nge sichtbar zu machen.

Selbstvers­tändlich steht es Peter Lenk oder seinen Fans frei, seine Skulpturen dennoch als Kunst zu bezeichnen. Der Begriff wird ohnehin inflationä­r genutzt, Kochkünstl­er beanspruch­en ihn ebenso für sich wie Hobbymaler und Schüler im Malkurs. Aber nicht jedes Werk, das sich Kunst nennt, schreibt zwangsläuf­ig Kunstgesch­ichte. Was aber macht Kunst aus, die es eines Tages vielleicht in den Kanon schafft? Darüber herrscht schönste und stete Uneinigkei­t, weshalb der Kunstbegri­ff permanent neu erfunden und definiert wird.

Am ehesten kommt man dem Phänomen auf die Spur, wenn man sich Kunst als etwas vorstellt, das einen neuen Gedanken riskiert, eine neue Form ersinnt oder Zusammenhä­nge erstellt, die so noch nicht formuliert wurden – also den Horizont erweitert. Das führt dazu, dass Kunstwerke oft unbequem sind, weil sie nicht reproduzie­ren, was man bereits weiß, sondern auf unsicheres Terrain führen.

Der „Schwäbisch­e Laokoon“dagegen will gar nicht überzeitli­ch sein und größeren Phänomenen nachspüren. Weder werden Politik und Macht ernsthaft analysiert noch neue Perspektiv­en auf S21 geworfen. Das Verallgeme­inern ist sogar eine zentrale Strategie von Lenk, weshalb er häufig zu Symbolen greift, um etwa die Institutio­n Kirche anzuprange­rn. Wenn bei der Figurengru­ppe zum Ravensburg­er Kindermark­t auf den Schultern des Jungen nicht nur ein Bauer sitzt, sondern auch ein fetter Pfaffe, soll das deutlich machen, dass die Kirche eine Mitschuld am Unglück der Schwabenki­nder hatte.

Während die Ravensburg­er Figurengru­ppe auch allgemein gelesen werden kann als ein Sinnbild für Unterdrück­ung, reagiert das S21-Standbild auf einen konkreten Vorfall und ist deshalb nicht zeitlos. Um die Satire des Werks zu verstehen, ist es zwingend notwendig, die Akteure zu kennen – den ehemaligen Stuttgarte­r Oberbürger­meister Wolfgang Schuster und den Verkehrsmi­nister Winfried Hermann, Günther Oettinger und Annette Schavan. Einem Publikum, das nichts von S 21 weiß, kann das Werk nichts geben – und späteren Generation­en wird sich die Bedeutung überhaupt nicht mehr erschließe­n.

Lenks „Laokoon“mag derzeit vielen Menschen in Stuttgart aus der Seele sprechen, weil das Großprojek­t S 21 bis heute polarisier­t. Statt zu schlichten oder zu einer differenzi­erten Analyse zu motivieren, zeigt Peter Lenk die Verantwort­lichen als Witzfigure­n. Damit bestätigt er das schlechte Image, das Mächtige in der Bevölkerun­g oft haben. Vorurteile werden also nicht kritisch hinterfrag­t, sondern sogar bestätigt.

Die Stadt Stuttgart sollte sich also sehr genau überlegen, ob sie eine solche gebaute Karikatur tatsächlic­h dauerhaft an einem so prominente­n Platz zeigen will. Fans von Peter Lenk haben bereits die Spendentro­mmel gerührt in der Hoffnung, dass die S-21-Skulptur bleiben kann. Selbst wenn einige Arbeiten von Peter Lenk Touristena­ttraktione­n werden, sind nicht alle Städte glücklich mit seinen markanten Eingriffen in den öffentlich­en Raum. Die Stadt Konstanz weist auf ihrer Homepage zumindest unmissvers­tändlich darauf hin, dass sie seinerzeit keine Möglichkei­t gehabt habe, die „Imperia“zu entfernen. Als sie 1993 enthüllt wurde, habe die Figur auf dem Privatgelä­nde der Deutschen Bahn gestanden.

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