„Gewalt kann jede Frau treffen“
Was zwei Opfer erlebt haben – Der Weiße Ring Lindau zieht Bilanz
LINDAU - Alle drei Tage stirbt in Deutschland eine Frau durch Gewalt. Gewalt von einem Mann. Zwei Frauen aus der Region, die Gewalt auf unterschiedliche Art erlebten, berichten. Anhand ihrer Geschichte zeigt der Weiße Ring Lindau: Es kann jede treffen. Und die Folgen sind gravierend.
Es passiert im August in einer Villa in Frankreich: Als die 47-Jährige dort ein befreundetes Ehepaar besucht, wird sie von dem Mann angegriffen – es entwickelt sich ein Kampf um Leben und Tod. 25 Minuten lang. Dann gelingt ihr die Flucht aus dem Haus. Szenenwechsel, Lindau vor rund einem Jahr: Eine 59Jährige wird auf dem Nachhauseweg auf einer belebten Straße überfallen. Sie wehrt sich und schreit um ihr Leben, bis ihr ein zufällig vorbeikommender Motorradfahrer hilft. Seither ist in ihrem Leben nichts mehr wie es vorher war.
Beide Frauen werden vom Weißen Ring in Lindau betreut. Anlässlich des „Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen“, ein jährlicher Gedenk- und Aktionstag zur Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen, will der Weiße Ring Lindau auf die aktuelle Situation in der Region hinweisen. In einer VideoKonferenz kamen daher Experten, aber auch Betroffene zu Wort.
Mehr als 114 000 Frauen sind im vergangenen Jahr Opfer von Partnerschaftsgewalt geworden, so die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts (BKA). Jeden Tag gibt es einen Tötungsversuch, alle drei Tage stirbt in Deutschland eine Frau durch Gewalt von ihrem (Ex)-Partner. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein, sagt Bundesfrauenministerin Franziska Giffey. Gewalt an Frauen passiert nicht nur in Großstädten oder Brennpunkten. Sie geschieht auch hier in Lindau. „Sie ist alltäglich in unserer Umgebung“, sagt Hermann Jehnes, Vorsitzender des Weißen Ringes Lindau. Häusliche Gewalt geschehe „jeden Tag in unserer Nachbarschaft, hinter verschlossenen Türen“.
2019 wurden 1432 Gewaltdelikte im Bereich des Polizeipräsidiums Schwaben Süd-West gezählt, bei denen Frauen Opfer wurden, 2020 waren es bis Ende Oktober 1296 – das sind vier Gewaltübergriffe gegen Frauen pro Tag. Im Landkreis Lindau gab es 2019 104 Gewaltdelikte, bis Oktober diesen Jahres lag die Zahl bei 71. Die Außenstelle Lindau habe dieses Jahr bislang 30 Frauen betreut, fünf suchten eine telefonische Beratung. Jehnes weiß: „Gewalt kann jede Frau treffen.“
Seit dem Überfall im August kann die 47-Jährige nicht mehr schlafen. Drei Nächte ist es ihr bislang gelungen, sich im Pyjama ins Bett zu legen. Meist lasse sie ihre Kleidung an, um fluchtbereit zu sein. Angst ist seit dem Überfall auch ein ständiger Begleiter der 59-jährigen Geschäftsfrau, die bis dahin eher forsch durchs Leben gegangen war. „Jetzt ist nichts mehr wie es war“, sagt sie. Sie hat ihren Job verloren, war acht Wochen in einer Klinik, nur weil sie „zur falschen Zeit am falschen Ort war“.
Die Folgen von Gewalterfahrungen sind einschneidend, weiß Anni Heine, Heilpraktikerin für Psychotherapie. Frauen verlieren dadurch die Sicherheit in ihr Zuhause als geschützten Raum (bei häuslicher Gewalt) oder in die Welt (bei außerhäuslicher Gewalt). Auch wenn die Reaktionen darauf oft individuell verschieden sein könnten, äußerten sich posttraumatische Störungen oft in „Flashbacks“, bei denen dann bestimmte Geräusche oder Gerüche körperliche Reaktionen hervorrufen können, die sie weder unterdrücken noch kontrollieren können. Schlafstörungen, Alpträume und Konzentrationsstörungen seien ebenfalls häufige Folgen. Biochemisch gesehen ließe sich ein Trauma mit einer „Impfung mit Stresshormonen“vergleichen, so Heine weiter. Oft komme erschwerend dazu, dass sich das soziale Umfeld so verhalte, als wäre die Frau Schuld. Dann gehe ein Riss durch Familien, und langjährige Freundschaften zerbrechen. „Da verliert man so viel, was man sich aufgebaut hat.“
Diese Erfahrung musste auch das 47-jährige Opfer machen. „Ich bin komplett von meinem Freundesund Bekanntenkreis fallen gelassen worden“, sagt sie. Für die war klar: „Ich bin schuld.“Ihr wurde am Telefon sogar vorgeworfen, dass der Täter wegen ihr nun seine Enkelkinder nicht mehr sehen und nicht mehr Skifahren dürfe.
So einschneidend die brutalen Überfälle für beide Frauen sind, eins unterscheidet sie wesentlich: Der Angreifer aus Frankreich stand kurze Zeit später bereits vor Gericht – und wurde wegen versuchten Mordes und Vergewaltigung zu zwei Jahren Haft verurteilt. Möglich machte das eine entsprechende Gesetzesverschärfung in Frankreich. Sorge, dass sie dieser Mann wieder angreift, braucht sie nicht mehr zu haben.
Das würde sich sie 59-Jährige auch wünschen. Ihr Fall ist auch ein Jahr nach der Tat juristisch noch nicht abgeschlossen. Obwohl der Täter mehrfach vorbestraft sei, sei er noch immer auf freiem Fuß, inzwischen sogar flüchtig. Das belastet, betont Jehnes: „Erst wenn die juristische
Der Weiße Ring leistet vielfältige Hilfe als Opferhilfsorganisation. Seine ehrenamtlichen Mitglieder beraten, unterstützen und begleiten die Gewaltopfer nach der Tat, solange es nötig ist. Er hat bundesweit rund 400 Außenstellen und 3000 ehrenamtliche Mitarbeiter. Seine Leistungen: Beratungsscheck für anwaltliche Erstberatung, Hilfecheck für eine Aufarbeitung abgeschlossen ist, kann auch die psychische Verarbeitung gelingen.“
Hilfe in der Krise zu leisten, das sei durch die Corona-Pandemie schwerer geworden, sagt Jehnes. Auch wenn sich zahlenmäßig im Landkreis Lindau kein erheblicher Anstieg an häuslicher Gewalt bemerkbar mache, erschwere Corona die Arbeit des Weißen Ringes. Statt persönlicher Kontakte müsse man auf Telefon oder Internet ausweichen. Doch gerade für Opfer häuslicher Gewalt sei es schwierig, zuhause zu telefonieren oder in eine Videoschalte zu gehen. Der Weiße Ring rät daher, über Vertrauenspersonen Kontakt zum Weißen Ring aufzunehmen.
In Corona-Zeiten fallen mitunter auch bewährte Bewältigungsstrategien weg, die den Opfern helfen könnten. Der 47-Jährigen beispielsweise fehlt der Sport mit Freunden sehr. Ihre körperliche Fitness war ihr immer sehr wichtig. Sie war es vermutlich auch, die ihr im August das Leben gerettet hat. psychotraumatische Erstberatung, finanzielle Soforthilfen, Begleitung in Strafverfahren, Unterstützung und Begleitung bei Behördengängen sowie Unterstützung bei Antragstellungen. (lz)
Nähere Informationen: Weißer Ring Lindau, Telefon 0151/ 55164678 sowie im Internet unter