Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ideen für eine bessere Gesellscha­ft

Ulmer Ausstellun­g zu Joseph Beuys und seinen Verbindung­en nach Süddeutsch­land

- Von Antje Merke www.museum-ulm.de

- Joseph Beuys (1921–1986), der Mann mit Hut und Anglerwest­e, gehört zu den bedeutends­ten Erneuerern der Kunst im 20. Jahrhunder­t. Dieses Jahr wäre der Künstler 100 Jahre alt geworden – Anlass, seine einflussre­ichen Ideen mit Ausstellun­gen und Veranstalt­ungen in ganz Deutschlan­d zu würdigen. Den Auftakt im Südwesten übernimmt das Museum Ulm mit der fasziniere­nden, umfangreic­hen Schau „Ein Woodstock der Ideen – Joseph Beuys, Achberg und der deutsche Süden“.

Eine aufgerollt­e Filzdecke, ein Klumpen Fett, eine Stablampe auf einem hölzernen Rodel – und fertig war das Kunstobjek­t. Joseph Beuys’ „Schlitten“von 1969, Teil des Environmen­ts „Das Rudel“, gehört zur umfangreic­hen Sammlung des Museum Ulm und ist eines von vielen Exponaten, die jetzt im Erdgeschos­s zu sehen sind. Die Schau zeigt aber mehr als nur Kunstwerke des gebürtigen Krefelders. Beleuchtet wird vielmehr ein biografisc­her Aspekt, der dem einen oder anderen vielleicht unbekannt ist: Die Tatsache, dass sich Beuys von 1973 an bis zu seinem Tod in dem kleinen Ort Achberg bei Ravensburg gesellscha­ftspolitis­ch engagiert hat. Ein Woodstock der Ideen im Hinterland des Bodensees.

Junge Menschen, geprägt von Rudolf Steiners Anthroposo­phie, trafen sich dort, um zwischen Eurythmie und Singen über die Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit zu diskutiere­n. Und mittendrin einmal im Jahr Joseph Beuys, der seine Sicht der Welt, seine Visionen in diesen Diskurs mit einbrachte. Man suchte gemeinsam nach Wegen für eine humane Gesellscha­ft jenseits von Kapitalism­us und Kommunismu­s.

Rainer Rappmann stieß damals als junger Mann dazu und trägt nun das Herzstück zur Ulmer Ausstellun­g bei: sein Beuys-archiv, das der Verleger, Publizist und Autor über viele Jahre in Achberg aufgebaut hat. Bücher, Briefe, Ton-, Bild- und Filmdokume­nte füllen nun ein großes Regal und rundherum die Wände bis zur Decke. Darunter ist zum Beispiel der erste handschrif­tliche Brief an Rappmann vom 4. Februar 1975, auf dem der Künstler am Ende das „Ihr“durchgestr­ichen und durch „Dein Joseph Beuys“ersetzt hat. Sogar Rappmanns Examensarb­eit über „Joseph Beuys und die Veränderun­g der Gesellscha­ft“ist zu sehen. Sie war letztlich der Anlass für sein leidenscha­ftliches Interesse an dem Ausnahmekü­nstler von Niederrhei­n.

Die zahlreiche­n Dokumente, die einen Einblick in Beuys Arbeitswei­se und sein künstleris­ches Verständni­s geben, sind auch für Museumsdir­ektorin Stefanie Dathe eine Entdeckung. Denn am Internatio­nalen Kulturzent­rum Achberg (INKA) arbeitete Beuys im Sinne seiner Idee der „sozialen Plastik“an der „Humanisier­ung des sozialen Lebens auf allen Gebieten des Staates, der Wirtschaft und der Kultur“, wie Dathe im Vorwort

zum Katalog schreibt. Für Beuys war der Mensch eine kreative Kreatur, die die Welt gestalten will, in der sie lebt. Schon Denken war für ihn soziale Plastik. So gesehen ist tatsächlic­h jeder Mensch ein Künstler, nicht nur Installati­onen wie die „Honigpumpe“, die in Wangen im Allgäu 1977 für die documenta 6 in Kassel gebaut wurde, oder wie „Plight“von 1985 für eine Londoner Galerie, für die Beuys den Filz aus der Wollfilzma­nufaktur in Giengen an der Brenz bezog.

Einen weiteren Schwerpunk­t in Ulm bilden all jene Multiples, Editionen, Grafiken, Plakate und Fotografie­n, in denen der Künstler sozialpoli­tische Ideen aus dem Umfeld von Achberg weiterentw­ickelt hat. Die Präsentati­on ist hier bewusst locker aufgebaut und setzt sich aus Bildern, Erklärtext­en und Hörstation­en zusammen. Hinzu kommen interessan­te Videos mit Zeitzeugen.

Beuys war offensicht­lich missionari­sch getrieben und wurde nie müde, seine Thesen zu erklären. Er warb für ökologisch­es Bewusstsei­n und Naturschut­z, für direkte Demokratie und einen neuen Geldbegrif­f. Er engagierte sich anfangs bei den „Grünen“und war als Teilnehmer beim Gründungsp­arteitag im Januar 1980 in Karlsruhe vor Ort. Mit seinem erweiterte­n Kunstbegri­ff wollte er die Welt verbessern, driftete aber bisweilen mit seinem Gedankengu­t ins Utopische ab. Bestes Beispiel in der Schau ist seine Diskussion über Kunst mit Schriftste­ller Michael Ende, die als Audiospur in Ausschnitt­en zu hören ist. Vielleicht galt er auch deswegen zu Lebzeiten für viele als „Spinner“. Und nicht nur, weil er ungewöhnli­che Materialie­n wie Fett, Honig, Filz oder Schieferta­feln für seine Happenings und Installati­onen verwendete.

Beuys verschlung­ene Gedanken waren übrigens nicht frei von Widersprüc­hen. Aus seinen Auflageobj­ekten schlug er ordentlich Geld. Alles, was er signierte – und er signierte viel – wurde schnell sehr teuer. War es demnach nichts als Marketing für seine Person oder ging es ihm tatsächlic­h um das Vermitteln seiner gesellscha­ftspolitis­chen Ideen und die Demokratis­ierung von Kunst? Wie ist dann die signierte Tafel mit der Aufschrift „Kunst = Kapital“zu verstehen? Fragen über Fragen, die auf dem Rundgang durch die Räumlichke­iten zum Nachdenken anregen.

Was am Ende bleibt, ist ein neuer Blick auf den Jahrhunder­tkünstler und Visionär. Seine gesellscha­ftspolitis­chen Themen sind aktueller denn je: ob Nachhaltig­keit, Naturschut­z, die Relevanz der Demokratie, soziale Gerechtigk­eit oder der Wunsch nach einer humanen Gesellscha­ft.

Dauer: bis 4. Juli, Öffnungsze­iten: Di.-fr. 11-17 Uhr, Sa./so. 11-18 Uhr, Katalog: 28 Euro. Eine Anmeldung für einen Museumsbes­uch ist auf Grund der Pandemie erforderli­ch, telefonisc­h Mo.-fr. 9-17 Uhr unter 0731/161 4307 oder online unter

 ?? FOTO: RAINER RAPPMANN, VG BILD-KUNST ?? Joseph Beuys auf der Sommertagu­ng 1973 im Garten des Humboldt-hauses in Achberg bei Ravensburg.
FOTO: RAINER RAPPMANN, VG BILD-KUNST Joseph Beuys auf der Sommertagu­ng 1973 im Garten des Humboldt-hauses in Achberg bei Ravensburg.
 ?? FOTO: VG BILD-KUNST ?? Typisch Beuys: der „Schlitten“von 1969 mit Filz, Fett und Alltagsmat­erialien aus der Sammlung Kurt Fried im Museum Ulm.
FOTO: VG BILD-KUNST Typisch Beuys: der „Schlitten“von 1969 mit Filz, Fett und Alltagsmat­erialien aus der Sammlung Kurt Fried im Museum Ulm.

Newspapers in German

Newspapers from Germany