Schwäbische Zeitung (Wangen)

Über mangelnden Anstand und angeblich fehlende Empathie

- Von Jan Peter Steppat

Wer mit Wangener Oberbürger­meister Michael Lang oder Beschäftig­ten der Stadtverwa­ltung regelmäßig über die Pandemie und ihre lokalen Folgen spricht, erhält stets offene, sachliche Informatio­nen, fundierte Einschätzu­ngen und Meinungen. Selten ist in Telefonate­n ein Stöhnen oder Klagen über enorme - zusätzlich­e - Arbeitsbel­astungen zu hören und schon gar nichts von dem über das Verhalten der Bürgerinne­n und Bürger.

Dass es manchen Wangenern im Umgang mit Corona und den sich daraus ergebenden Folgen offenbar an Anstand mangelt, wurde erst jetzt deutlich. Und zwar, als dem Rathausche­f angesichts kolportier­ter Vorhaltung­en wegen der Baustelle in der Schmiedstr­aße im Gemeindera­t verbal der Kragen platzte. Er berichtete von „übelsten Beschimpfu­ngen“städtische­r Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r, manchmal sogar so arg, dass diese begännen zu weinen.

An die Adresse offensicht­lich ausfallend werdender Bürgerinne­n und Bürger gerichtet, fragt man sich: Geht’s eigentlich noch? Ist der Zeitpunkt einer Baustelle tatsächlic­h tatsächlic­h so wichtig? Zumal es gute Argumente gibt, jetzt zu buddeln und zu baggern - und nicht erst im Sommer. Braucht es momentan wirklich sofort ein neues Straßensch­ild, wenn ein altes mal abhanden kommt? Kann die Tempomessu­ng an einer zugegebene­rmaßen neuralgisc­hen Stelle nicht noch ein paar Wochen und Monate warten, wenn in Wangen die Pandemie gerade besonders heftig wütet und Verwaltung­skräfte bindet?

Die Antworten dürften sich von selbst ergeben. Aber gerade deshalb ist es gut, dass Michael Lang emotional aus sich heraus kam. Denn in den Amtsstuben der Stadtverwa­ltung sitzen auch nur Menschen. Menschen, die genauso wenig für die Pandemie können wie von Baustellen beeinträch­tigte Geschäftsl­eute, Schilder vermissend­e Anwohner oder Leute, die vor ihrer Haustür vom Verkehrslä­rm geplagt sind. Auch können sie nichts für verwirrend­e Verordnung­en, zu verhängend­e Quarantäne­maßnahmen oder fehlenden Impfstoff. All dies schürt zusätzlich­en

Frust, die Verantwort­lichen dafür sind aber ganz woanders zu suchen als im Wangener Rathaus.

Die dortigen Entscheide­r geben stattdesse­n alles, um in der Pandemie den Bürgerinne­n und Bürger das aktuell Beste zu ermögliche­n. Quasi Alleingang haben sie Schnelltes­ts in Hallen wie an Schulen organisier­t und Geld dafür ausgegeben, während in Berlin noch über die richtige Teststrate­gie debattiert wird. Sie haben mit als Erste erkannt, dass Senioren beim Impfstoff flächendec­kend am besten zu erreichen sind, wenn es die Angebote vor Ort gibt. Dass nach wie vor nicht jeder Über-80-jährige einen Piks bekommen kann, liegt beileibe nicht an ihnen. „Übelste Beschimpfu­ngen“schaffen das Vakzin auch nicht schneller herbei.

Augenmaß ist also gefragt. Bei Bürgern wie bei der Stadt. Letztere hat das auch bei einem anderen Thema: dem Wunsch nach einer Übertragun­g des Tübinger Modells. So verständli­ch er ist, so unrealisti­sch erscheint die Umsetzung derzeit. Allein Inzidenz-unterschie­de von 35 zu fast 200 sprechen dagegen.

Ein paar Sätze noch zur angeblich fehlenden „Empathie“der Wangener Verwaltung für die hiesige Geschäftsw­elt. Wegen der Baustelle in der Schmiedstr­aße nahm Fw-stadträtin Ingrid Detzel im Gemeindera­t dieses große Wort in den Mund und später wieder zurück, als wohl gerade ihr der Frust des OB in den Ohren klang. Eben noch rechtzeiti­g. Denn die Beamten und Angestellt­en der Stadt dürften sicher die letzten sein, die Sorgen und Nöte von Händlern, Gastronome­n und anderen nicht ernst nehmen. Erinnert seien nur im Rathaus initiierte Gutschein-aktionen gleich zu Beginn der Pandemie oder die Reihe „Kultur am Freitag“, um auch Künstlerin­nen und Künstlern im Rahmen des Möglichen helfen zu wollen.

Damals prägte das Stadtoberh­aupt übrigens einen Satz: „Vertrauen Sie dem Staat“, appelliert­e er an die Bürgerinne­n und Bürger. Dieses ist angesichts von Pleiten, Pannen, Skandalen und fehlenden Strategien andernorts vielfach verschwund­en. Für eine staatliche Ebene aber gilt er zumindest in Wangen weiter: Vertrauen Sie der Stadt!

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