Über mangelnden Anstand und angeblich fehlende Empathie
Wer mit Wangener Oberbürgermeister Michael Lang oder Beschäftigten der Stadtverwaltung regelmäßig über die Pandemie und ihre lokalen Folgen spricht, erhält stets offene, sachliche Informationen, fundierte Einschätzungen und Meinungen. Selten ist in Telefonaten ein Stöhnen oder Klagen über enorme - zusätzliche - Arbeitsbelastungen zu hören und schon gar nichts von dem über das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger.
Dass es manchen Wangenern im Umgang mit Corona und den sich daraus ergebenden Folgen offenbar an Anstand mangelt, wurde erst jetzt deutlich. Und zwar, als dem Rathauschef angesichts kolportierter Vorhaltungen wegen der Baustelle in der Schmiedstraße im Gemeinderat verbal der Kragen platzte. Er berichtete von „übelsten Beschimpfungen“städtischer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, manchmal sogar so arg, dass diese begännen zu weinen.
An die Adresse offensichtlich ausfallend werdender Bürgerinnen und Bürger gerichtet, fragt man sich: Geht’s eigentlich noch? Ist der Zeitpunkt einer Baustelle tatsächlich tatsächlich so wichtig? Zumal es gute Argumente gibt, jetzt zu buddeln und zu baggern - und nicht erst im Sommer. Braucht es momentan wirklich sofort ein neues Straßenschild, wenn ein altes mal abhanden kommt? Kann die Tempomessung an einer zugegebenermaßen neuralgischen Stelle nicht noch ein paar Wochen und Monate warten, wenn in Wangen die Pandemie gerade besonders heftig wütet und Verwaltungskräfte bindet?
Die Antworten dürften sich von selbst ergeben. Aber gerade deshalb ist es gut, dass Michael Lang emotional aus sich heraus kam. Denn in den Amtsstuben der Stadtverwaltung sitzen auch nur Menschen. Menschen, die genauso wenig für die Pandemie können wie von Baustellen beeinträchtigte Geschäftsleute, Schilder vermissende Anwohner oder Leute, die vor ihrer Haustür vom Verkehrslärm geplagt sind. Auch können sie nichts für verwirrende Verordnungen, zu verhängende Quarantänemaßnahmen oder fehlenden Impfstoff. All dies schürt zusätzlichen
Frust, die Verantwortlichen dafür sind aber ganz woanders zu suchen als im Wangener Rathaus.
Die dortigen Entscheider geben stattdessen alles, um in der Pandemie den Bürgerinnen und Bürger das aktuell Beste zu ermöglichen. Quasi Alleingang haben sie Schnelltests in Hallen wie an Schulen organisiert und Geld dafür ausgegeben, während in Berlin noch über die richtige Teststrategie debattiert wird. Sie haben mit als Erste erkannt, dass Senioren beim Impfstoff flächendeckend am besten zu erreichen sind, wenn es die Angebote vor Ort gibt. Dass nach wie vor nicht jeder Über-80-jährige einen Piks bekommen kann, liegt beileibe nicht an ihnen. „Übelste Beschimpfungen“schaffen das Vakzin auch nicht schneller herbei.
Augenmaß ist also gefragt. Bei Bürgern wie bei der Stadt. Letztere hat das auch bei einem anderen Thema: dem Wunsch nach einer Übertragung des Tübinger Modells. So verständlich er ist, so unrealistisch erscheint die Umsetzung derzeit. Allein Inzidenz-unterschiede von 35 zu fast 200 sprechen dagegen.
Ein paar Sätze noch zur angeblich fehlenden „Empathie“der Wangener Verwaltung für die hiesige Geschäftswelt. Wegen der Baustelle in der Schmiedstraße nahm Fw-stadträtin Ingrid Detzel im Gemeinderat dieses große Wort in den Mund und später wieder zurück, als wohl gerade ihr der Frust des OB in den Ohren klang. Eben noch rechtzeitig. Denn die Beamten und Angestellten der Stadt dürften sicher die letzten sein, die Sorgen und Nöte von Händlern, Gastronomen und anderen nicht ernst nehmen. Erinnert seien nur im Rathaus initiierte Gutschein-aktionen gleich zu Beginn der Pandemie oder die Reihe „Kultur am Freitag“, um auch Künstlerinnen und Künstlern im Rahmen des Möglichen helfen zu wollen.
Damals prägte das Stadtoberhaupt übrigens einen Satz: „Vertrauen Sie dem Staat“, appellierte er an die Bürgerinnen und Bürger. Dieses ist angesichts von Pleiten, Pannen, Skandalen und fehlenden Strategien andernorts vielfach verschwunden. Für eine staatliche Ebene aber gilt er zumindest in Wangen weiter: Vertrauen Sie der Stadt!