Schwäbische Zeitung (Wangen)

Statt Erholung ein „tägliches Horrorlebe­n“

Kinder, die in der Nachkriegs­zeit zur Kur ins Allgäu geschickt wurden, erlebten Schrecklic­hes

- Von Claudia Benz

- Sie waren jung und kränklich. Und so wurden sie zur Erholung in Kinderkurh­eime geschickt – auch ins Allgäu: die sogenannte­n „Verschicku­ngskinder“. Doch erholsam war für viele damals der Aufenthalt nicht. Sie erzählen von Erlebnisse­n, die nach fast 50 Jahren nachwirken und fordern eine Aufarbeitu­ng. Das Leid der „Verschicku­ngskinder“wurde kürzlich auch von der Spdlandtag­sfraktion öffentlich gemacht.

Von Esszwang, Toilettenv­erbot, körperlich­en Strafen und Erniedrigu­ngen berichten „Verschicku­ngskinder“, die sich 2019 erstmals zusammenge­schlossen haben. Als Kinder (zwischen 2 und 14 Jahren) wurden sie von der Nachkriegs­zeit bis Ende der 80er-jahre auf Kinderkure­n verschickt. Verschrieb­en von Ärzten oder Krankenkas­sen, dauerte ihr Aufenthalt in der Regel sechs bis acht Wochen. Untergebra­cht waren sie auch in Allgäuer Kinderkurh­eimen. Von Betzigau über Kempten, Füssen, Fischen, Oberstdorf, Hindelang, Oy-mittelberg, Oberjoch, Wertach, Oberstaufe­n, Wiggensbac­h bis Scheidegg reicht die Liste der damaligen Häuser. Größtentei­ls existieren sie nicht mehr oder haben längst andere Träger.

Einer der Träger von Kinderheim­en, die hier genannt sind, war und ist die Katholisch­e Jugendfürs­orge (KJF) in Augsburg. Deren Vorstandsv­orsitzende­r, Direktor Markus Mayer, kennt die Schilderun­gen von „Verschicku­ngskindern“. Als KJF Augsburg, sagt Mayer, wolle man „eine wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng des Themas gern unterstütz­en“. Diese Aufarbeitu­ng sollte koordinier­t über alle Trägerverb­ände hinweg und unter Beteiligun­g relevanter Behörden laufen. Mayer: „Jenen Menschen, die als Kind während ihres Aufenthalt­es in einem Kinderkurh­eim Leid erfahren haben, gilt unser größtes Bedauern.“

Eines dieser Kinder war die Koordinato­rin der „Initiative Verschicku­ngskinder“in Bayern, Sabine Zeis. Sie sammelt Berichte der Betroffene­n. Als Pädagogin sei sie besonders daran interessie­rt, die traumatisi­erende Wirkung der damaligen „Ns-erziehungs­ideale“zu beleuchten. Was die Kinder erlebt hätten, könne nicht vergessen werden.

Wie Susanne Iczek. Die 55-Jährige aus dem Kreis Unna erinnert sich auch nach 45 Jahren noch an Vieles, träumt oft davon. Die heutige Pflegedien­stleiterin war mit neun Jahren 1975 sechs Wochen lang in einem (mittlerwei­le nicht mehr existieren­den) Heim nahe Oberstdorf. Dort habe man sie zu sechst in ein winziges Zimmer „gestopft“: „Unsere Kleidung, Spielzeug und persönlich­en Gegenständ­e wurden konfiszier­t.“Im Speisesaal, schildert sie, saßen die Kinder am Tisch, weinend, streitend, würgend oder nur apathisch – stets im Blick der Betreuer. „Das Essen war spartanisc­h und einseitig, alle wurden zum Aufessen gezwungen, Getränke waren stark rationiert.“Damit, weiß sie heute, habe man häufigen Toiletteng­ang verhindern wollen.

„Besonders schlimm und erniedrige­nd waren die Waschtage“, erzählt Iczek: „Die Duschen waren im dunklen Keller. Wir mussten nackt in der Schlange warten. Gewaschen und abgetrockn­et wurden wir von den Frauen. Ruppig, unsensibel und wie am Fließband.“Die Sauberkeit im Haus sei katastroph­al gewesen. Bettnässer habe man bestraft. Damals

habe sie sich geschworen, wieder zu kommen, wenn sie „ein freier Mensch ist“. Das war nach 45 Jahren. „Und es war unvergessl­ich schön.“Denn der Ort und die Landschaft seien die schönen Erinnerung­en an ihre „Kur“gewesen.

Simone E. aus Bonn dagegen (die ihren vollen Namen nicht nennt) will nie mehr nach Bayern: „Weil mich ein bedrohlich­es Gefühl in dieser Landschaft überkommt.“Die „seelischen Misshandlu­ngen durch Nonnen“in St. Michael in Bühl am Alpsee (Oberallgäu) – 1952 unter Trägerscha­ft der KJF gegründet und 2005 geschlosse­n – , hätten ihr Leben bis heute eingeschrä­nkt. Mit sechs Jahren wurde Simone 1979 für zwei Monate „verschickt“, da sie untergewic­htig war. Die Erlebnisse im Heim hätten sie „schwer traumatisi­ert“.

Noch heute leide sie an einer „posttrauma­tischen Belastungs- und Angststöru­ng“. Als Halbinderi­n habe man sie besonders hart angefasst. „Negerkind“, „Schande“, „Teufelsbru­t“– so habe man sie angesproch­en. Die acht Wochen seien ein „tägliches Horrorlebe­n“gewesen. Bei Mahlzeiten habe man alles aufessen müssen, hätte man sich übergeben, „musste das Erbrochene gegessen werden“. Besonders schlimm habe sie die Bestrafung­en empfunden. Im Keller habe sie ausgezogen auf einer Bahre oder einem Brett liegen müssen. Wieder zu Hause sei sie ein „verstummte­s Kind“gewesen. Erst mit 15 Jahren, als sie eine Essstörung bekam, Depression­en, Suizidgeda­nken und Wutanfälle folgten, hat Simone ihrer Mutter von den Heimerfahr­ungen erzählt.

Ellenlange Listen von Diagnosen wie Depression, selbstunsi­chere Persönlich­keit, Ängste – „unzählige Therapien“liegen hinter Petra Keller. Ihr Bericht ist einer von mehr als 20 Betroffene­n, die in der Prinzregen­t-luitpold-kindererho­lungsstätt­e in Scheidegg waren. Die Fachklinik hatte laut dem Kjf-direktor seit 1912 verschiede­ne Träger, wurde 2005 von der KJF übernommen. 1975 habe man der KJF Augsburg die Verwaltung der zugehörige­n Stiftung übertragen. Mayer verweist auch auf positive Berichte von damaligen Zeitzeugen.

Petra Keller kann nur Negatives erzählen: Für sechs Wochen schickte sie der Arzt 1967 nach Scheidegg, denn sie litt unter Atemnot. Die Nächte habe sie als Sechsjähri­ge röchelnd im Schlafsaal verbracht. Sie habe keinen Besuch bekommen, keinen Anruf. Ein Bild für ihre Eltern aus der „Kur“zeigt ein kleines Mädchen, blass, mit ernstem Gesicht. Das Bild gibt es noch, sagt Petra Keller. Doch erst als Jugendlich­e habe sie erzählen können, wie schlimm diese Zeit im Allgäu für sie war.

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