Statt Erholung ein „tägliches Horrorleben“
Kinder, die in der Nachkriegszeit zur Kur ins Allgäu geschickt wurden, erlebten Schreckliches
- Sie waren jung und kränklich. Und so wurden sie zur Erholung in Kinderkurheime geschickt – auch ins Allgäu: die sogenannten „Verschickungskinder“. Doch erholsam war für viele damals der Aufenthalt nicht. Sie erzählen von Erlebnissen, die nach fast 50 Jahren nachwirken und fordern eine Aufarbeitung. Das Leid der „Verschickungskinder“wurde kürzlich auch von der Spdlandtagsfraktion öffentlich gemacht.
Von Esszwang, Toilettenverbot, körperlichen Strafen und Erniedrigungen berichten „Verschickungskinder“, die sich 2019 erstmals zusammengeschlossen haben. Als Kinder (zwischen 2 und 14 Jahren) wurden sie von der Nachkriegszeit bis Ende der 80er-jahre auf Kinderkuren verschickt. Verschrieben von Ärzten oder Krankenkassen, dauerte ihr Aufenthalt in der Regel sechs bis acht Wochen. Untergebracht waren sie auch in Allgäuer Kinderkurheimen. Von Betzigau über Kempten, Füssen, Fischen, Oberstdorf, Hindelang, Oy-mittelberg, Oberjoch, Wertach, Oberstaufen, Wiggensbach bis Scheidegg reicht die Liste der damaligen Häuser. Größtenteils existieren sie nicht mehr oder haben längst andere Träger.
Einer der Träger von Kinderheimen, die hier genannt sind, war und ist die Katholische Jugendfürsorge (KJF) in Augsburg. Deren Vorstandsvorsitzender, Direktor Markus Mayer, kennt die Schilderungen von „Verschickungskindern“. Als KJF Augsburg, sagt Mayer, wolle man „eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas gern unterstützen“. Diese Aufarbeitung sollte koordiniert über alle Trägerverbände hinweg und unter Beteiligung relevanter Behörden laufen. Mayer: „Jenen Menschen, die als Kind während ihres Aufenthaltes in einem Kinderkurheim Leid erfahren haben, gilt unser größtes Bedauern.“
Eines dieser Kinder war die Koordinatorin der „Initiative Verschickungskinder“in Bayern, Sabine Zeis. Sie sammelt Berichte der Betroffenen. Als Pädagogin sei sie besonders daran interessiert, die traumatisierende Wirkung der damaligen „Ns-erziehungsideale“zu beleuchten. Was die Kinder erlebt hätten, könne nicht vergessen werden.
Wie Susanne Iczek. Die 55-Jährige aus dem Kreis Unna erinnert sich auch nach 45 Jahren noch an Vieles, träumt oft davon. Die heutige Pflegedienstleiterin war mit neun Jahren 1975 sechs Wochen lang in einem (mittlerweile nicht mehr existierenden) Heim nahe Oberstdorf. Dort habe man sie zu sechst in ein winziges Zimmer „gestopft“: „Unsere Kleidung, Spielzeug und persönlichen Gegenstände wurden konfisziert.“Im Speisesaal, schildert sie, saßen die Kinder am Tisch, weinend, streitend, würgend oder nur apathisch – stets im Blick der Betreuer. „Das Essen war spartanisch und einseitig, alle wurden zum Aufessen gezwungen, Getränke waren stark rationiert.“Damit, weiß sie heute, habe man häufigen Toilettengang verhindern wollen.
„Besonders schlimm und erniedrigend waren die Waschtage“, erzählt Iczek: „Die Duschen waren im dunklen Keller. Wir mussten nackt in der Schlange warten. Gewaschen und abgetrocknet wurden wir von den Frauen. Ruppig, unsensibel und wie am Fließband.“Die Sauberkeit im Haus sei katastrophal gewesen. Bettnässer habe man bestraft. Damals
habe sie sich geschworen, wieder zu kommen, wenn sie „ein freier Mensch ist“. Das war nach 45 Jahren. „Und es war unvergesslich schön.“Denn der Ort und die Landschaft seien die schönen Erinnerungen an ihre „Kur“gewesen.
Simone E. aus Bonn dagegen (die ihren vollen Namen nicht nennt) will nie mehr nach Bayern: „Weil mich ein bedrohliches Gefühl in dieser Landschaft überkommt.“Die „seelischen Misshandlungen durch Nonnen“in St. Michael in Bühl am Alpsee (Oberallgäu) – 1952 unter Trägerschaft der KJF gegründet und 2005 geschlossen – , hätten ihr Leben bis heute eingeschränkt. Mit sechs Jahren wurde Simone 1979 für zwei Monate „verschickt“, da sie untergewichtig war. Die Erlebnisse im Heim hätten sie „schwer traumatisiert“.
Noch heute leide sie an einer „posttraumatischen Belastungs- und Angststörung“. Als Halbinderin habe man sie besonders hart angefasst. „Negerkind“, „Schande“, „Teufelsbrut“– so habe man sie angesprochen. Die acht Wochen seien ein „tägliches Horrorleben“gewesen. Bei Mahlzeiten habe man alles aufessen müssen, hätte man sich übergeben, „musste das Erbrochene gegessen werden“. Besonders schlimm habe sie die Bestrafungen empfunden. Im Keller habe sie ausgezogen auf einer Bahre oder einem Brett liegen müssen. Wieder zu Hause sei sie ein „verstummtes Kind“gewesen. Erst mit 15 Jahren, als sie eine Essstörung bekam, Depressionen, Suizidgedanken und Wutanfälle folgten, hat Simone ihrer Mutter von den Heimerfahrungen erzählt.
Ellenlange Listen von Diagnosen wie Depression, selbstunsichere Persönlichkeit, Ängste – „unzählige Therapien“liegen hinter Petra Keller. Ihr Bericht ist einer von mehr als 20 Betroffenen, die in der Prinzregent-luitpold-kindererholungsstätte in Scheidegg waren. Die Fachklinik hatte laut dem Kjf-direktor seit 1912 verschiedene Träger, wurde 2005 von der KJF übernommen. 1975 habe man der KJF Augsburg die Verwaltung der zugehörigen Stiftung übertragen. Mayer verweist auch auf positive Berichte von damaligen Zeitzeugen.
Petra Keller kann nur Negatives erzählen: Für sechs Wochen schickte sie der Arzt 1967 nach Scheidegg, denn sie litt unter Atemnot. Die Nächte habe sie als Sechsjährige röchelnd im Schlafsaal verbracht. Sie habe keinen Besuch bekommen, keinen Anruf. Ein Bild für ihre Eltern aus der „Kur“zeigt ein kleines Mädchen, blass, mit ernstem Gesicht. Das Bild gibt es noch, sagt Petra Keller. Doch erst als Jugendliche habe sie erzählen können, wie schlimm diese Zeit im Allgäu für sie war.