Schwäbische Zeitung (Wangen)

Corona wird zur häufigsten Berufskran­kheit

Covid-19 verdoppelt die Zahl der arbeitsbed­ingten Erkrankung­en – Hohe Kosten für Kassen

- Von Finn Mayer-kuckuk

- Covid-19 ist keine Grippe: Das gilt auch für den Status als Berufskran­kheit. Nachdem das Arbeitsmin­isterium im vergangene­n Jahr die Weichen dafür gestellt hat, die Pandemie entspreche­nd zu behandeln, haben sich Covid-19-folgen in der Statistik der Unfallkass­en schnell nach ganz oben gearbeitet. Seit Beginn der Pandemie bis Ende Februar sind bei der Deutschen Gesetzlich­en Unfallvers­icherung (DGUV) 77 907 Verdachtsf­älle auf Covid als Berufskran­kheit eingegange­n. Das ist ungefähr so viel wie die Gesamtzahl sonstiger Meldungen in einem normalen Jahr. Corona verdoppelt also die Zahl der Berufserkr­ankungen.

Besonders die dritte Welle macht sich heftig bemerkbar: Im Januar und Februar allein gingen 30 329 Meldungen ein. „Die Entwicklun­g spiegelt die ungeheure Wucht, mit der diese Pandemie unser Land aktuell trifft“, sagt Stefan Hussy, Hauptgesch­äftsführer des DGUV. Da die Zahl der tatsächlic­hen Anerkennun­gen bei Corona deutlich höher liegt als im Durchschni­tt, müssen die Kassen erhebliche Leistungen zusätzlich stemmen. Seit Beginn der Pandemie wurden 42 753 Fälle anerkannt.

Die weit überwiegen­de Zahl der Erkrankung­en meldet die Berufsgeno­ssenschaft für Gesundheit­sdienst und Wohlfahrts­pflege (BGW). Auf Platz zwei kommt der Unfallvers­icherungst­räger der öffentlich­en Hand. Der hohe Anteil der BGW und der öffentlich­en Hand hat einen konkreten Grund. Eine Infektion als Berufskran­kheit setzt voraus, dass die oder der Beschäftig­te „im Gesundheit­sdienst, in der Wohlfahrts­pflege oder in einem Laboratori­um tätig ist oder durch eine andere Tätigkeit der Infektions­gefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war.“So sagt es die Verordnung des Bundesarbe­itsministe­riums.

Die Möglichkei­t, eine Covid-19-infektion als Berufskran­kheit anerkennen zu lassen, haben also vor allem für Ärzte, Kranken- und Altenpfleg­er und ähnliche Berufe Bedeutung. Wer sich in einer anderen Branche beispielsw­eise beim Kundenkont­akt ansteckt, fällt vorerst durchs Raster. Lehrer, Erzieher oder Polizisten können die Folgen einer Ansteckung bei der Arbeit also nicht ohne Weiteres als Berufskran­kheit anerkennen lassen, weil die Verordnung das für diese Berufsgrup­pen nicht hergibt. Ihre Aufnahme in die Liste ist nicht geplant. Und das, obwohl sich laut AOK besonders viele Menschen in Sozialund Betreuungs­berufen wegen Covid-19 krankschre­iben lassen.

Für diese Beamten und Arbeitnehm­er gibt es jedoch noch eine zweite Möglichkei­t, nach einer Corona-infektion Leistungen aus der Unfallvers­icherung zu erhalten: durch Anerkennun­g als Arbeitsunf­all. Das ist von der Regierung ausdrückli­ch so gewollt. „In den Tätigkeite­n, in denen derzeit keine Anerkennun­g einer Covid-19-erkrankung

als Berufskran­kheit möglich ist, ist dennoch die Anerkennun­g als Arbeitsunf­all möglich“, teilte das Arbeitsmin­isterium auf eine Anfrage der Bundestags­fraktion der Linken mit. Doch die Anerkennun­g als Unfall sei nicht so leicht wie die als Berufskran­kheit, sagt Rechtsexpe­rte Alexander Greth von der Anwaltskan­zlei Simmons & Simmons in Düsseldorf. Die Betroffene­n müssen hier grundsätzl­ich nachweisen, zu welchem Zeitpunkt sie sich bei welcher infizierte­n Person angesteckt haben. „Einer Friseurin dürfte das schwerer fallen als einer Büromitarb­eiterin, die sich beim Kollegen angesteckt hat“, so Greth.

Auf sachlicher Ebene lässt sich die Unterschei­dung zwischen Covid-19 als Berufskran­kheit und als Arbeitsunf­all nicht begründen – sie liegt rein am Wortlaut der Verordnung. „Die Infektion nimmt dadurch unter den Berufskran­kheiten eine Sonderstel­lung ein“, sagt Greth. Eigentlich erfolgt die Ansteckung punktuell und ist damit in jedem Fall eher ein Unfall. Doch für Ärzte und Pfleger gilt so ein Einzelerei­gnis dennoch als Berufskran­kheit. Immerhin: „Es gibt keine Unterschie­de beim Leistungss­pektrum der Versicheru­ngen“, sagt Greth.

Im vergangene­n Jahr haben die Unfallkass­en noch versucht, die hohen Forderunge­n abzuwehren, die Corona ihnen aufbürdet. Sie haben die Pandemie zur „Allgemeing­efahr“erklärt, der alle Bürger unabhängig von der Arbeitswel­t gleicherma­ßen ausgesetzt seien. „Von dieser Sicht sind die Versicheru­ngsträger allerdings abgekommen“, sagt Greth. Aus den Unfallkass­en können die anerkannte­n Covid-19-opfer nun die regulären Leistungen wie Verletzten­geld, Rehaleistu­ngen oder im Extremfall Verletzten­rente oder Hinterblie­benenleist­ungen beziehen.

Mit steigenden Infektions­zahlen von Jüngeren dürften sich die Zahlen der Meldungen und Anerkennun­gen noch einmal deutlich erhöhen. In Deutschlan­d gab es bisher bei den 20- bis 59-Jährigen mehr als 2600 Todesfälle von insgesamt mehr als 77 000 Toten (Stand: Ende März). Von den Fällen, die ins Krankenhau­s mussten, war rund die Hälfte der Patienten auf umfangreic­he Nachbehand­lung und Reha angewiesen. Ein Teil davon kämpft noch monatelang mit den Spätfolgen. Auch nach milden Covid-19-verläufen ist nach Angaben des Robert-koch-instituts jeder zehnte Patient länger als einen Monat betroffen. Für die Unfallkass­en besonders relevant wird das Fatigue-syndrom (Chronische­s Erschöpfun­gssyndrom) sein. Dabei handelt es sich um Dauermüdig­keit, die produktive Arbeit nicht mehr zulässt. Es tritt unabhängig vom Alter und der Schwere der eigentlich­en Erkrankung auf. Damit trifft es Versichert­e, die mitten im Leben stehen, besonders schwer.

Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund DGB befürworte­t nun auch die Anerkennun­g von Corona als Arbeitsunf­all, wenn die Ansteckung auf dem Weg in die Firma erfolgte. Es handele sich dann um einen Wegunfall, was die Arbeitgebe­r und Unfallvers­icherungst­räger nach Auffassung der Gewerkscha­ft zu akzeptiere­n haben. „Es gilt: Nicht abwimmeln lassen“, sagt Anja Piel, Mitglied des Vorstands beim DGB. Die gesetzlich­e Unfallvers­icherung biete bei Arbeitsunf­ällen bessere Leistungen als die gesetzlich­en Krankenkas­sen.

Anwalt Greth sieht hier jedoch rechtliche Schwierigk­eiten: Es lässt sich schließlic­h kaum nachweisen, wann und wo genau eine Corona-infektion erfolgte – ob auf dem Weg zur Arbeit oder im privaten Bereich. Wenn sich diese Einschätzu­ng durchsetze, werde die Zahl der Verdachtsf­älle ausufern.

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Stecken sich Arbeitnehm­er im berufliche­n Umfeld mit dem Coronaviru­s an, kann das als Berufserkr­ankung oder Arbeitsunf­all gelten.

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