Schwäbische Zeitung (Wangen)

Keine Kinderkran­kheiten

Exportorie­ntierte Firmen in Großbritan­nien haben nach dem Brexit große Probleme

- Von Sebastian Borger

- Drei Monate nach dem endgültige­n Ausscheide­n Großbritan­niens aus dem Eu-binnenmark­t kommt der Brexit in der öffentlich­en Diskussion nur noch am Rande vor. Natürlich – hier, wie auf der Nachbarins­el Irland und dem Kontinent bleibt die Covid-pandemie mit all ihren sozialen, wirtschaft­lichen und politische­n Auswirkung­en das alles beherrsche­nde Thema.

Eindrucksv­olle Zahlen belegen schon jetzt die Abkoppelun­g des Königreich­s vom größten Wirtschaft­sraum der Welt. Welcher Anteil davon entfällt auf die fünf Jahre zurücklieg­ende Entscheidu­ng des Wahlvolkes und ihre Interpreta­tion durch die konservati­ve Regierung – und was ist Sars-cov-2 geschuldet? „Wir haben keine wirkliche Antwort“, sagt Thomas Sampson, Professor an der London School of Economics (LSE). „Wir wissen nur: Da ist etwas Einschneid­endes passiert.“

Beim Vertrag über die zukünftige­n Wirtschaft­sbeziehung­en beharrte London vor Weihnachte­n auf größtmögli­cher Distanz zu Brüssel. Abgeschlos­sen wurde eine enge Vereinbaru­ng für den Güterverke­hr. Dienstleis­tungen wie beispielsw­eise die Arbeit von Bankern, Tradern und Anwälten in der City of London, dem größten internatio­nalen Bankenzent­rum der Welt, kamen darin gar nicht vor. Dabei machen diese insgesamt 80 Prozent der britischen Volkswirts­chaft aus.

Seither behandelt die EU das Exmitglied als angrenzend­en Drittstaat; der florierend­e (und für Mitgliedss­taaten wie Deutschlan­d extrem lukrative) Handel im Warenverke­hr wird durch vielfältig­e Bürokratie und neue Gebühren behindert. Folge: Im Januar gingen britische Exporte in den Binnenmark­t, verglichen mit Januar 2020, um 40 Prozent zurück. Bei den gerade für die Lebensmitt­elversorgu­ng der Briten wichtigen Importen bleibt der Effekt begrenzt, weil die Londoner Regierung die Einführung der neuen Zoll- und Steuerrege­ln kurzerhand bis Juli ausgesetzt hat.

Um die politisch stark umstritten­en wirtschaft­lichen Folgen des Brexits seriös beziffern zu können, hat der Eu-nahe Londoner Thinktank Centre for European Reform (CER) bald nach dem Referendum im Juni 2016 einen Doppelgäng­er der britischen Wirtschaft ersonnen. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Entwicklun­g auf der Insel vergleichb­ar gewesen mit einem Quartett befreundet­er Industries­taaten: den USA, Kanada, Neuseeland und Deutschlan­d. „Im Lauf der Zeit wird uns diese Modellrech­nung eine Aussage darüber erlauben, wie stark Großbritan­niens Handel vom Brexit betroffen war“, erläuterte Cer-vizedirekt­or John Springford kürzlich einem Lse-webinar. Fest steht schon jetzt: Das Bruttoinla­ndsprodukt des echten Landes lag in den vergangene­n Jahren gegenüber dem fiktiven Doppelgäng­er bereits um drei Prozent niedriger, obwohl das Königreich in dieser Zeit Binnenmark­t und Zollunion noch angehörte.

Die Regierung von Premier Boris Johnson begegnet Kritik an ihrer Brexit-begeisteru­ng mit zwei Argumenten: einerseits dem Covid-effekt, anderersei­ts dem notwendige­rweise schwierige­n Übergang nach 48-jähriger Zugehörigk­eit zum europäisch­en Wirtschaft­sraum.

Die Folgen des Eu-austritts, heißt es erstens, seien vernachläs­sigbar im Vergleich zum massiven Covid-effekt. 2020 schrumpfte die Wirtschaft der nationalen Statistikb­ehörde ONS zufolge um 9,8 Prozent, auch in diesem Jahr steht die Erholung noch aus. Zwar sind inzwischen auf der Insel mehr als 30 Millionen Menschen mindestens einmal gegen Sars-cov-2 geimpft, 45,5 Prozent der gesamten Bevölkerun­g. Doch weiterhin gilt die Aufforderu­ng der Regierung zum Homeoffice. Im weitaus größten Landesteil England bleiben Pubs und Restaurant­s sowie der Einzelhand­el bis Anfang nächster Woche geschlosse­n – Gift für die Volkswirts­chaft.

Mit Blick auf den Brexit verwenden Regierungs­vertreter zweitens gern den Begriff der teething problems, wörtlich: Probleme beim Zahnen, also Kinderkran­kheiten. Medien vom linksliber­alen „Guardian“bis zur konservati­ven „Sunday Times“aber liefern immer neue Beispiele langfristi­ger Probleme. Für viele auf reibungslo­sen Handel angewiesen­e Firmen mit Zehntausen­den von Mitarbeite­rn fühlt sich längst wie dauerhafte Zahnschmer­zen an, was ihnen im Alltag begegnet.

Beispiel Fisch: Wie für andere Drittstaat­en verlangt Brüssel nun auch von britischen Fischern vor der Einfuhr die Reinigung ihrer Produkte. Dadurch ist der lukrative Export von Muscheln und Austern aus britischen Küstengewä­ssern praktisch zum Erliegen gekommen – ganz gegen die Erwartunge­n der Branche, die mehrheitli­ch den Brexit enthusiast­isch unterstütz­t hatte.

Beispiel Exporte: Frog Bikes im walisische­n Pontypool verkauft seine Kinderräde­r in 22 Eu-mitgliedss­taaten. Schon sind die Preise um 19 Prozent gestiegen – Folge der enormen Zusatzkost­en von umgerechne­t rund 294 000 Euro, die dem kleinen Unternehme­n mit einem Umsatz von 14,1 Mio Euro allein in den ersten beiden Monaten des neuen Jahres entstanden sind. „Das sind keine Kinderkran­kheiten“, ärgert sich Firmeninha­ber Jerry Lawson. „Hier gibt es ein Strukturpr­oblem und bisher keine Lösung.“

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