Lebensmittel vor der Mülltonne retten
Annika Stegherr und Lea Speißer haben in Lindenberg eine Initiative gegen Lebensmittelverschwendung gestartet – Welchen Wunsch sie haben
- Der Joghurt mit dem überschrittenen Mindesthaltbarkeitsdatum, der Apfel mit dem braunen Fleck oder die Erdbeer-rhabarber-marmelade von Tante Erna, die niemandem schmeckt: Täglich wird eine Menge Essen weggeworfen. Auch in Betrieben und Privathaushalten im Westallgäu. Dabei muss das nicht sein. Viele Lebensmittel, die im Müll landen, wären eigentlich noch genießbar. Annika Stegherr (20) und Lea Speißer (21) aus Lindenberg tun jetzt etwas dagegen. Die Auszubildende zur Landschaftsgärtnerin und die Lehramtsstudentin für Sport und Englisch haben in ihrer Heimatstadt Lindenberg eine Foodsharing-initiative gegründet. Ihr Ziel: die Lebensmittelverschwendung stoppen.
Was ist Foodsharing?
Foodsharing ist eine ökologische Bewegung, sie sich gegen Lebensmittelverschwendung einsetzt und ein Bewusstsein für den Wert von Essen schaffen will. Der gleichnamige Verein mit Sitz in Köln hat sich im Dezember 2012 gegründet. Auf seiner Internetseite, die als Plattform zum Verteilen überschüssiger Lebensmittel dient, sind rund 200 000 Nutzer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz angemeldet. Foodsharing gibt es in der Region beispielsweise in Kempten, Ravensburg, Leutkirch, Immenstadt und Friedrichshafen.
Weshalb ist das Thema so brisant?
Weltweit werden ein Drittel aller produzierten Lebensmittel weggeworfen – obwohl rund 40 Prozent davon noch genießbar wären. Allein in Deutschland landen jedes Jahr rund 18 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Jeder Deutsche wirft umgerechnet pro Woche mehr als vier Kilogramm Essen weg. „Und auf der anderen Seite sterben täglich etwa 57 000 Menschen auf der Welt an Hunger“, sagt Speißer. Zudem sei das Wegwerfen auch doppelte Verschwendung: Der Mensch verbrauche Unmengen an Ressourcen wie Wasser, Boden und Arbeitskraft, um etwas herzustellen – und nutze dann das daraus gewonnene Produkt nicht einmal. Ein Irrsinn in den Augen der 21-Jährigen.
Seit wann gibt es Foodsharing in Lindenberg und wie ist es organisiert?
Seit gut drei Wochen gibt es den Foodsharing-bezirk Lindenberg offiziell als Untergruppe der deutschlandweiten Organisation. Lea Speißer und Annika Stegherr vertreten die politisch völlig unabhängige Gruppe als Botschafterinnen nach außen. Das Kernteam besteht aktuell aus zehn Leuten aus Lindenberg und dem Westallgäu. Die meisten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. „Wir sind eine stetig wachsende Gruppe“, sagt Stegherr. Ein halbes Dutzend davon sind bereits ausgebildete Foodsaver.
Wie läuft das Foodsharing in Lindenberg ab?
Die Gruppe steckt noch in den Kinderschuhen und arbeitet deshalb erst mit einem Betrieb zusammen: Jeden Montag holen die Lebensmittelretter überschüssiges Essen beim Naturkostladen Lang in Lindenberg ab – zum Beispiel Obst und Gemüse, das übers Wochenende liegengeblieben ist. Aktuell sind die Mitglieder dabei, ihr Netzwerk auszubauen und weitere Abholstellen zu vereinbaren. „Wir kommen auch spontan, zu jeder Uhrzeit und an jedem Wochentag. Es soll so wenig Aufwand wie möglich für die Betriebe sein“, sagt Stegherr.
Welches Prinzip gilt beim Abholen?
Alles so lokal wie möglich. „Wir wollen die Sachen dort abholen, wo die Leute eh schon wohnen“, sagt Stegherr. Es wäre ökologischer Unsinn, mit dem Auto wegen einer Kiste Gemüse von Lindenberg nach Lindau zu fahren. „Die Foodsaver in Freiburg sind komplett zu Fuß oder mit Lastenfahrrädern unterwegs“, sagt die 20-Jährige. Im ländlich strukturierten Westallgäu ist das allerdings schwierig umzusetzen. Der Idealfall wäre deshalb, in jedem Dorf einen Lebensmittelretter zu haben, der direkt vor Ort zum Abholen gehen kann.
es? Um welche Lebensmittel geht
Grundsätzlich um alles, was die Betriebe sonst aussortieren und wegwerfen würden. Zum Beispiel Gemüse mit Druckstellen, das bekanntlich bei Kunden nicht so gefragt ist. „Wir sind nicht wählerisch und nehmen alles, was noch genießbar ist“, sagt Stegherr. Hauptsache, das Essen landet nicht im Müll. Die Foodsaver dürfen auch Lebensmittel mitnehmen, die das Mindesthaltbarkeitsdatum schon überschritten haben. Über eine Rechtsvereinbarung entbinden sie die Betriebe von ihrer Verantwortung.
Wie wird man Foodsaver?
Es ist eine theoretische Ausbildung, zum Beispiel in Sachen Lebensmittelsicherheit, Hygieneschulung oder Rechtsgrundlagen. Zudem muss jeder dreimal bei einem ausgebildeten Foodsaver mitgehen – quasi eine Art „Praktikum“. Anschließend gibt es einen offiziellen Foodsharingausweis, mit dem man sich beim Abholen identifizieren kann. Wichtig: Wer Lebensmittel abholen will, muss mindestens 18 Jahre alt sein.
Was passiert mit den geretteten Lebensmitteln?
Im Moment verschenken die Foodsaver die geretteten Lebensmittel lediglich im Freundes- und Familienkreis. Mittel- und langfristig soll aber jeder mitmachen können. Stegherr und Speißer wollen in Lindenberg eine öffentlich zugängliche Abholstelle einrichten. An diesem sogenannten „Fairteiler“kann sich jeder kostenlos an geretteten Lebensmitteln bedienen – und zugleich auch selbst etwas hinstellen. Wer zum Beispiel in den Urlaub fährt, kann am Tag vorher dort Essen abliefern, das sonst zu Hause verderben würde. Dabei gilt: Jeder kann etwas abholen, unabhängig vom sozialen Status oder Gehalt. „Wir machen keine Bedürftigkeitsprüfung“, hebt Speißer hervor. Über allem stehe die Prämisse, dass nichts weggeworfen wird. Zusätzlich zum „Fairteiler“können auch sogenannte „Essenskörbe“über die Plattform foodsharing.de zum Abholen angeboten werden. Wer zum Beispiel fünf Kilogramm Äpfel übrig hat und diese verschenken will, trägt das dort ähnlich wie bei Ebaykleinanzeigen
ein. Interessenten können sich dann direkt melden.
Welche Ziele hat Foodsharing Lindenberg?
Bekannter werden, neue Mitglieder und weitere Kooperationspartner gewinnen. Zum Beispiel Bäcker und Metzger, aber auch kleine Dorfläden oder Direktvermarkter auf Wochenmärkten. „Bei inhabergeführten Geschäften tun wir uns leichter als bei großen Ketten“, hat Stegherr festgestellt. Der große Wunsch der Foodsharing-botschafterinnen ist es, dass in Lindenberg so bald wie möglich ein „Fairteiler“steht. Die Abholstelle sollte zentral gelegen, öffentlich zugänglich, idealerweise wettergeschützt und zu Fuß erreichbar sein. „Das i-tüpfelchen wäre ein Stromanschluss, damit wir auch einen Kühlschrank aufstellen könnten“, sagt Speißer und ergänzt: „Es wäre cool, wenn irgendwann sogar jedes Dorf einen eigenen Fairteiler hätte.“
Welche Rolle spielt Geld bei der ganzen Sache?
Ganz einfach: keine. Foodsharing arbeitet komplett ehrenamtlich. Das Mitmachen ist ebenso kostenlos wie die angebotenen Lebensmittel. Getrieben sind die beiden jungen Frauen vor allem von einer großen Portion Idealismus: Sie wollen im Kleinen vor Ort etwas verändern.
Wer vor Ort mitmachen möchte, kann sich bei Annika Stegherr und Lea Speißer per E-mail an lindenberg@foodsharing.network melden. Weitere Informationen gibt es unter www.foodsharing.de im Internet. Auf einer Karte sind dort unter anderem die Standorte aller Fairteiler und Essenskörbe eingezeichnet.