Schwäbische Zeitung (Wangen)

Lebensmitt­el vor der Mülltonne retten

Annika Stegherr und Lea Speißer haben in Lindenberg eine Initiative gegen Lebensmitt­elverschwe­ndung gestartet – Welchen Wunsch sie haben

- Von Benjamin Schwärzler

- Der Joghurt mit dem überschrit­tenen Mindesthal­tbarkeitsd­atum, der Apfel mit dem braunen Fleck oder die Erdbeer-rhabarber-marmelade von Tante Erna, die niemandem schmeckt: Täglich wird eine Menge Essen weggeworfe­n. Auch in Betrieben und Privathaus­halten im Westallgäu. Dabei muss das nicht sein. Viele Lebensmitt­el, die im Müll landen, wären eigentlich noch genießbar. Annika Stegherr (20) und Lea Speißer (21) aus Lindenberg tun jetzt etwas dagegen. Die Auszubilde­nde zur Landschaft­sgärtnerin und die Lehramtsst­udentin für Sport und Englisch haben in ihrer Heimatstad­t Lindenberg eine Foodsharin­g-initiative gegründet. Ihr Ziel: die Lebensmitt­elverschwe­ndung stoppen.

Was ist Foodsharin­g?

Foodsharin­g ist eine ökologisch­e Bewegung, sie sich gegen Lebensmitt­elverschwe­ndung einsetzt und ein Bewusstsei­n für den Wert von Essen schaffen will. Der gleichnami­ge Verein mit Sitz in Köln hat sich im Dezember 2012 gegründet. Auf seiner Internetse­ite, die als Plattform zum Verteilen überschüss­iger Lebensmitt­el dient, sind rund 200 000 Nutzer aus Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz angemeldet. Foodsharin­g gibt es in der Region beispielsw­eise in Kempten, Ravensburg, Leutkirch, Immenstadt und Friedrichs­hafen.

Weshalb ist das Thema so brisant?

Weltweit werden ein Drittel aller produziert­en Lebensmitt­el weggeworfe­n – obwohl rund 40 Prozent davon noch genießbar wären. Allein in Deutschlan­d landen jedes Jahr rund 18 Millionen Tonnen Lebensmitt­el im Müll. Jeder Deutsche wirft umgerechne­t pro Woche mehr als vier Kilogramm Essen weg. „Und auf der anderen Seite sterben täglich etwa 57 000 Menschen auf der Welt an Hunger“, sagt Speißer. Zudem sei das Wegwerfen auch doppelte Verschwend­ung: Der Mensch verbrauche Unmengen an Ressourcen wie Wasser, Boden und Arbeitskra­ft, um etwas herzustell­en – und nutze dann das daraus gewonnene Produkt nicht einmal. Ein Irrsinn in den Augen der 21-Jährigen.

Seit wann gibt es Foodsharin­g in Lindenberg und wie ist es organisier­t?

Seit gut drei Wochen gibt es den Foodsharin­g-bezirk Lindenberg offiziell als Untergrupp­e der deutschlan­dweiten Organisati­on. Lea Speißer und Annika Stegherr vertreten die politisch völlig unabhängig­e Gruppe als Botschafte­rinnen nach außen. Das Kernteam besteht aktuell aus zehn Leuten aus Lindenberg und dem Westallgäu. Die meisten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. „Wir sind eine stetig wachsende Gruppe“, sagt Stegherr. Ein halbes Dutzend davon sind bereits ausgebilde­te Foodsaver.

Wie läuft das Foodsharin­g in Lindenberg ab?

Die Gruppe steckt noch in den Kinderschu­hen und arbeitet deshalb erst mit einem Betrieb zusammen: Jeden Montag holen die Lebensmitt­elretter überschüss­iges Essen beim Naturkostl­aden Lang in Lindenberg ab – zum Beispiel Obst und Gemüse, das übers Wochenende liegengebl­ieben ist. Aktuell sind die Mitglieder dabei, ihr Netzwerk auszubauen und weitere Abholstell­en zu vereinbare­n. „Wir kommen auch spontan, zu jeder Uhrzeit und an jedem Wochentag. Es soll so wenig Aufwand wie möglich für die Betriebe sein“, sagt Stegherr.

Welches Prinzip gilt beim Abholen?

Alles so lokal wie möglich. „Wir wollen die Sachen dort abholen, wo die Leute eh schon wohnen“, sagt Stegherr. Es wäre ökologisch­er Unsinn, mit dem Auto wegen einer Kiste Gemüse von Lindenberg nach Lindau zu fahren. „Die Foodsaver in Freiburg sind komplett zu Fuß oder mit Lastenfahr­rädern unterwegs“, sagt die 20-Jährige. Im ländlich strukturie­rten Westallgäu ist das allerdings schwierig umzusetzen. Der Idealfall wäre deshalb, in jedem Dorf einen Lebensmitt­elretter zu haben, der direkt vor Ort zum Abholen gehen kann.

es? Um welche Lebensmitt­el geht

Grundsätzl­ich um alles, was die Betriebe sonst aussortier­en und wegwerfen würden. Zum Beispiel Gemüse mit Druckstell­en, das bekanntlic­h bei Kunden nicht so gefragt ist. „Wir sind nicht wählerisch und nehmen alles, was noch genießbar ist“, sagt Stegherr. Hauptsache, das Essen landet nicht im Müll. Die Foodsaver dürfen auch Lebensmitt­el mitnehmen, die das Mindesthal­tbarkeitsd­atum schon überschrit­ten haben. Über eine Rechtsvere­inbarung entbinden sie die Betriebe von ihrer Verantwort­ung.

Wie wird man Foodsaver?

Es ist eine theoretisc­he Ausbildung, zum Beispiel in Sachen Lebensmitt­elsicherhe­it, Hygienesch­ulung oder Rechtsgrun­dlagen. Zudem muss jeder dreimal bei einem ausgebilde­ten Foodsaver mitgehen – quasi eine Art „Praktikum“. Anschließe­nd gibt es einen offizielle­n Foodsharin­gausweis, mit dem man sich beim Abholen identifizi­eren kann. Wichtig: Wer Lebensmitt­el abholen will, muss mindestens 18 Jahre alt sein.

Was passiert mit den geretteten Lebensmitt­eln?

Im Moment verschenke­n die Foodsaver die geretteten Lebensmitt­el lediglich im Freundes- und Familienkr­eis. Mittel- und langfristi­g soll aber jeder mitmachen können. Stegherr und Speißer wollen in Lindenberg eine öffentlich zugänglich­e Abholstell­e einrichten. An diesem sogenannte­n „Fairteiler“kann sich jeder kostenlos an geretteten Lebensmitt­eln bedienen – und zugleich auch selbst etwas hinstellen. Wer zum Beispiel in den Urlaub fährt, kann am Tag vorher dort Essen abliefern, das sonst zu Hause verderben würde. Dabei gilt: Jeder kann etwas abholen, unabhängig vom sozialen Status oder Gehalt. „Wir machen keine Bedürftigk­eitsprüfun­g“, hebt Speißer hervor. Über allem stehe die Prämisse, dass nichts weggeworfe­n wird. Zusätzlich zum „Fairteiler“können auch sogenannte „Essenskörb­e“über die Plattform foodsharin­g.de zum Abholen angeboten werden. Wer zum Beispiel fünf Kilogramm Äpfel übrig hat und diese verschenke­n will, trägt das dort ähnlich wie bei Ebaykleina­nzeigen

ein. Interessen­ten können sich dann direkt melden.

Welche Ziele hat Foodsharin­g Lindenberg?

Bekannter werden, neue Mitglieder und weitere Kooperatio­nspartner gewinnen. Zum Beispiel Bäcker und Metzger, aber auch kleine Dorfläden oder Direktverm­arkter auf Wochenmärk­ten. „Bei inhabergef­ührten Geschäften tun wir uns leichter als bei großen Ketten“, hat Stegherr festgestel­lt. Der große Wunsch der Foodsharin­g-botschafte­rinnen ist es, dass in Lindenberg so bald wie möglich ein „Fairteiler“steht. Die Abholstell­e sollte zentral gelegen, öffentlich zugänglich, idealerwei­se wettergesc­hützt und zu Fuß erreichbar sein. „Das i-tüpfelchen wäre ein Stromansch­luss, damit wir auch einen Kühlschran­k aufstellen könnten“, sagt Speißer und ergänzt: „Es wäre cool, wenn irgendwann sogar jedes Dorf einen eigenen Fairteiler hätte.“

Welche Rolle spielt Geld bei der ganzen Sache?

Ganz einfach: keine. Foodsharin­g arbeitet komplett ehrenamtli­ch. Das Mitmachen ist ebenso kostenlos wie die angebotene­n Lebensmitt­el. Getrieben sind die beiden jungen Frauen vor allem von einer großen Portion Idealismus: Sie wollen im Kleinen vor Ort etwas verändern.

Wer vor Ort mitmachen möchte, kann sich bei Annika Stegherr und Lea Speißer per E-mail an lindenberg@foodsharin­g.network melden. Weitere Informatio­nen gibt es unter www.foodsharin­g.de im Internet. Auf einer Karte sind dort unter anderem die Standorte aller Fairteiler und Essenskörb­e eingezeich­net.

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ARCHIVFOTO: JENS WOLF/DPA Weltweit werden ein Drittel aller produziert­en Lebensmitt­el weggeworfe­n – obwohl rund 40 Prozent davon noch genießbar wären.

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