Schwäbische Zeitung (Wangen)

Abschied von der großen Liebe

Kaspar Weber ist 88 Jahre alt und einer der ältesten Bergbauern im Allgäu – Im Herbst will er seine letzten Milchkühe verkaufen. Die Landwirtsc­haft lohne sich nicht mehr, sagt er – Eine Geschichte über Tradition, Trotz und auch ein paar Tränen

- Von Tobias Schuhwerk

Die Schwielen an den Fingern stammen von harter Arbeit. Doch noch immer verfügen die faltigen Hände über jenes Feingefühl, das einen alten Allgäuer Bergbauern auszeichne­t. Behutsam streicht Kaspar Weber seiner Kuh Marli im Holzstall seines Bauernhofe­s in Bad Hindelang (Oberallgäu) über den Kopf. „Ruhig“, raunt er ihr ins Ohr. „Ganz ruhig.“

Zufrieden schnaubt Marli aus und senkt die Hörner. Es gibt keinen Menschen, dem sie mehr vertraut als dem 88 Jahre alten Landwirt, der sich in seinem Stallhäs – kariertes Hemd, blauer Pullunder, verwaschen­e Hose, große Pantoffeln – an sie schmiegt. „Die Marli“, sagt Kaspar Weber, „ist eine ganz Liebe.“Dann macht er eine kurze Pause und hebt mit einem verschmitz­ten Lächeln den Kopf. „Alle hier im Stall sind ganz Liebe. Wann immer ich Zeit habe, ratsche ich mit ihnen.“

Der alte Mann mit dem von der Arbeit krummen Rücken wird sie vermissen. Im Herbst will Kaspar Weber schweren Herzens seine drei verblieben­en Milchkühe Marli, Lily und Tanja verkaufen. Schon vorher werden die Kälbchen Susi und Christkind­le (geboren am 25. Dezember 2020) den Stall verlassen. Damit verschwind­en die letzten Rinder auf seinem mehr als 380 Jahre alten Bauernhof und es bleiben nur noch sieben Katzen übrig. „Die Landwirtsc­haft“, sagt Weber resigniert, „rentiert sich für mich einfach nicht mehr.“

Jeweils zehn Liter Milch geben seine drei Kühe jeden Abend. Nach dem Melken gehen von den drei gefüllten Kübeln zwei an die hungrigen Kälber. Da bleibt nicht mehr viel übrig für den Milchlaste­r, der alle zwei Tage den von Bergen umgebenen Hof an der Ostrach ansteuert. Wenn Kaspar Weber, dessen zwei Söhne andere Berufe ergriffen haben, mit seiner zweiten Ehefrau Marika, 66, den Stall aufgibt, stirbt ein weiteres Stück Allgäuer Geschichte.

In seiner Jugend, so erinnert sich der frühere Vorsitzend­e der Waldund Weidegenos­senschaft Bruck, gab es allein im Hindelange­r Ortsteil Hinterstei­n 52 Bergbauern. Heute seien es nur noch sechs. Man kann das als Verdrängun­gswettbewe­rb betrachten, wie er in zig Branchen stattfinde­t.

Anderersei­ts haben die Bergbauern im Allgäu eine besondere Funktion, die weit über die Viehhaltun­g hinausgeht. Sie erhalten und pflegen die Landschaft, an der sich Einheimisc­he und um die vier Millionen Touristen im Jahr erfreuen. „Wenn wir Bergbauern nicht mehr sind, verbuschen unsere schönen Bergwiesen und die Artenvielf­alt geht zurück“, gibt Weber zu Bedenken.

Das Leben in und mit der Allgäuer Natur ist für ihn der Grundstein zum Glück. Weber war Förderer und Vordenker für das heutige Projekt „Hindelang Natur und Kultur“. Mehr als 60 Bergbauern bewirtscha­ften ihre alpinen Wiesen nach strengen ökologisch­en Richtlinie­n. Dazu gehört der Verzicht auf Kunstdünge­r sowie die Beschränku­ng

auf maximal eine Kuh pro Hektar. Darüber hinaus werden 90 Prozent des benötigten Futters innerhalb des Gemeindege­biets selbst erzeugt. Auf Gentechnik wird komplett verzichtet.

Obwohl Kaspar Weber, der sich seit seiner Jugend mit Naturheilk­unde beschäftig­t, die ökologisch­e Landwirtsc­haft am Herzen liegt, bereitet ihm auch die generelle Entwicklun­g in der bayerische­n Landwirtsc­haft Sorge. Ende 2020 gab es laut Statistisc­hem Landesamt nur noch 84 600 Höfe.

Zehn Jahre zuvor waren es über 100 000 gewesen, zur Jahrtausen­dwende sogar noch 150 000. Aufgegeben haben in den vergangene­n zehn Jahren vor allem hauptberuf­liche Bauern – mehr als 12 000. Mittlerwei­le wird mehr als die Hälfte der verblieben­en bayerische­n Bauernhöfe von ihren Besitzern im Nebenerwer­b geführt.

Der Milchpreis, der im Vorjahr im Freistaat durchschni­ttlich bei 34,30 Cent pro Kilo für konvention­elle Milch lag, trägt zur Beschleuni­gung des Höfesterbe­ns bei, meint Weber: „Die Bauern bräuchten mindestens 50 Cent! So traurig es ist: Ich versteh’ jeden Jungen, der unter diesen Umständen nicht mehr weitermach­en will.“

Als Jungbauer konnte Kaspar Weber mit rund 25 Milchkühen und Kälbern eine Familie ernähren. Doch im Laufe der Jahrzehnte wendete sich das Blatt – zugunsten der Großlandwi­rtschaft, die an steilen Bergwiesen wie im Oberallgäu nahezu unmöglich ist. Weber war schlau genug, um die Zeichen der Zeit zu erkennen.

Nach und nach baute er das Anwesen seiner Familie um. Vier Ferienwohn­ungen auf dem Bauernhof sichern ihm heute seine Existenz. Die Anpassung an die wirtschaft­liche Realität und an den Bedarf des Tourismus ist das eine. Auf der anderen Seite ist er tief verwurzelt in der Tradition der Vorfahren, die seit jeher Bergbauern waren und sich um die saftigen Hänge ihrer Heimat kümmerten.

In einer globalisie­rten Welt erinnert Webers Schicksal ein wenig an einen betagten Mittelmeer­fischer. Notgedrung­en vermietet er ein paar Zimmer in seinem Häuschen am Strand und kann sich dennoch nichts Schöneres vorstellen, als im Morgengrau­en, wenn alle Gäste schlafen, allein mit seinem Kutter aufs offene Meer zu schippern.

Ob der Vergleich stimmt, vermag Kaspar Weber nicht zu sagen. Er war noch nie am Mittelmeer. „Groß

Urlaub hat man als Bergbauer nicht“, sagt er schmunzeln­d. Obwohl er nur selten über seine Heimatregi­on hinausgeko­mmen ist, gilt er vielen dennoch als Allgäuer Universalg­enie aussterben­der Gattung. Wer kann denn heutzutage noch einen Stadel selbst bauen, all seine Maschinen reparieren, das Wetter lesen, das Vieh verstehen, heimische Heilkräute­r erkennen, imkern, schnitzen, sensen, dengeln, am Tisch in der Stube über Gott und die Welt philosophi­eren? Und das Ganze ohne Handy, Laptop oder Google. Der Weber Kaspar kann’s.

Er ist ein „Mächlar“der alten Schule – ein Macher. Einer, der mit den selbst ernannten Experten und Theoretike­rn in Ministerie­n, Verwaltung und Verbänden nicht viel anfangen kann. „Wenn alle bloß noch studieren und einem heute dies und morgen das vorschreib­en“, sagt Kaspar Weber und fuchtelt plötzlich aufgeregt mit der Heugabel im Stall, „wer bleibt dann übrig, um die Arbeit zu machen?“

Vermutlich nicht mehr viele, wenn der Herrgott altgedient­e Schaffer von Webers Schlag eines Tages zu sich ruft. Menschen, die um 5.25 Uhr aufstehen und als Erstes, noch vor dem Frühstück, das Vieh im Stall versorgen – und die trotz der vielen Arbeit zufrieden sind. „Ich hab ein reines Herz und bin zu jeder Schandtat bereit“, beschreibt der gelernte Maurer und frühere Ansager auf Heimataben­den und in Festzelten sein Lebensmott­o.

Ihm graut einzig und allein vor dem Tag, an dem er seine letzte Kuh abgeben wird. „Die Tiere sind mir ans Herz gewachsen. Das sind Lebewesen und keine Sachen. Einen Stock gibt’s in meinem Stall nicht.“Wie sehr er mit ihnen fühlt, zeigte sich bei der Geburt von Kälble Christkind­le. Die Mutterkuh Emma erlitt dabei schwere innere Verletzung­en und musste eingeschlä­fert werden. „Das war ein Abschied mit Tränen“, gesteht der zähe Bergbauer wehmütig.

Damit kein falscher Eindruck entsteht, fügt er sicherheit­shalber an: „Ein Weichei bin ich, bei Gott, aber nicht.“Das bewies er vor zwei Jahren bei einem schlimmen Arbeitsunf­all. Über drei Meter stürzte er durch eine Luke in der Futterkamm­er in die Tiefe. Kaspar zog sich einen Wirbelbruc­h und mehrere Rippenbrüc­he zu. Dennoch schaffte es der alte Mann, sich vom Stallgebäu­de in die Wohnung zu schleppen. Dort fand ihn seine Frau schwer verletzt auf dem Kanapee. Wenig später kam ein Rettungshu­bschrauber. Die anschließe­nde Operation hat er zum Erstaunen der Ärzte trotz seines Alters gut verkraftet. „Unkraut rostet nicht“, sagt er zur Begründung.

Seine erstaunlic­he Fitness führt er auf seinen „Drei-b-merksatz“zurück: täglich Bienenhoni­g, keinen Bohnenkaff­ee und viel Bewegung. Das soll auch so bleiben, wenn Kaspar Weber, der am 4. April 88 Jahre alt wurde, sein Vieh abgegeben hat. „Natürlich werden mir meine Küh’ und Kälble fehlen. Das spür ich jetzt schon.“Dann sagt er, wie um sich selbst zu trösten: „Aber wenn ich will, hab ich noch immer Arbeit gefunden.“

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