Die Notbremse klemmt
Zwischen Bund und Ländern deutet sich bei härteren Corona-maßnahmen ein Machtgerangel an
(dpa) - Der Bund hat vorgelegt, doch in den Ländern und im Bundestag regt sich Widerstand: Beim Ringen um einheitliche Maßnahmen gegen die dritte Corona-welle geht es längst nicht nur um Inhalte, sondern auch um Macht. Ob die Bundesregierung ihren Zeitplan einhalten kann, das neue Infektionsschutzgesetz am Dienstag auf den Weg zu bringen, ist ungewiss. Genauso, was am Ende drinstehen wird.
Es geht um die zentrale Frage: Was passiert, wenn in Landkreisen die Sieben-tage-inzidenz auf mehr als 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner steigt? Das soll möglichst schon kommende Woche gesetzlich geregelt werden. Angesichts der vollen Intensivstationen drängt die Zeit – nach derzeitigem Stand wäre mehr als die Hälfte aller Landkreise von dem Gesetz betroffen. Doch mehrere Beteiligte machten am Wochenende klar: Den Vorschlägen des Bundes für strenge Maßnahmen wollen sie so nicht zustimmen. Über folgende Vorschläge wird debattiert:
Private Kontakte: Dass Treffen in der Öffentlichkeit und zu Hause eingeschränkt bleiben, scheint kaum umstritten. Wissenschaftlichen Studien zufolge gehören strenge Kontaktbeschränkungen zu den wirksamsten aller Corona-maßnahmen und reduzieren die Verbreitung des Virus geschätzt um bis zu ein Viertel. Künftig könnte wieder gelten: Ein Haushalt darf sich maximal mit einer weiteren Person treffen, Kinder rausgerechnet dürfen es maximal fünf Personen sein.
Ausgangsbeschränkungen: Hier gehen die Meinungen stark auseinander. Der Plan des Bundes: Zwischen 21 und 5 Uhr soll man das Haus nur noch in Ausnahmefällen verlassen dürfen, etwa bei medizinischen Notfällen oder für den Weg zur Arbeit, aber nicht für Spaziergänge oder Joggingrunden. Forscher der Universität Oxford gehen davon aus, dass nächtliche Ausgangsbeschränkungen die Verbreitung des Virus um rund 13 Prozent reduzieren können. Berliner Wissenschaftler warnten allerdings, dass sich die Menschen schon bald einfach zu anderen Zeiten treffen werden. Daher könne dieses Werkzeug „relativ schnell stumpf werden“.
Tests in Schulen: Im Gespräch ist, dass Schulen nur regulär öffnen dürfen, wenn alle Schüler mindestens zweimal pro Woche getestet werden. Ab einer 200er-inzidenz – derzeit in mehr als 40 Landkreisen – sollen die Schulen mit Ausnahmen für Notbetreuung und Abschlussklassen ganz zumachen. Auf Schnell- und Selbsttests kann man sich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ohnehin nicht hundertprozentig verlassen. „Selbsttests sind keine Wunderwaffe“,
sagte der Präsident des Robertkoch-instituts (RKI), Lothar Wieler, bereits im Februar. Ein negatives Ergebnis ist eine reine Momentaufnahme und schließt eine Infektion nicht grundsätzlich aus. Vor allem bei Infizierten ohne Symptomen besteht nach bisherigem Wissen durchaus die Gefahr falscher Ergebnisse. Was aber niemand weiß: Ob diejenigen mit falsch-negativem Ergebnis überhaupt für andere ansteckend gewesen wären oder nicht.
Geschäfte: Geht es nach dem Willen des Bundes, müssten Modellprojekte mit Ladenöffnungen für Getestete in Kreisen mit hohen Infektionszahlen gestoppt werden. Ab der 100er-inzidenz sollen wieder nur Supermärkte, Getränkemärkte, Apotheken, Drogerien, Tankstellen, Buchhändler, Blumenläden und Gartenmärkte öffnen dürfen.
Freizeit und Sport: Auch hier müssten sich einige Landkreise nach den Plänen des Bundes von Öffnungsplänen verabschieden. Der Entwurf sieht vor, dass nicht nur Konzerthäuser, Bühnen und Kinos geschlossen bleiben, sondern auch Museen, Schwimmbäder, Zoos und botanische Gärten. Seilbahnen und Ausflugsschiffe könnten stillstehen und auch Stadt- und Naturführungen untersagt sein. Sport könnte bundesweit nur noch allein, zu zweit oder mit dem eigenen Haushalt erlaubt sein, auch wieder für Kinder und Jugendliche. Ausnahme: Wettkampf und Training von Leistungssportlern.
Tourismus und Gastronomie: Hier gab es bis zuletzt die wenigsten Öffnungen – und es sind wohl auch bislang noch keine in Sicht. Restaurants, Kneipen, Hotels und Ferienwohnungen müssen in Landkreisen mit 100er-inzidenz wahrscheinlich zu bleiben. Der Verband der Eigentümer von Ferienwohnungen und Ferienhäusern betonte aber, in Landkreisen mit niedriger Inzidenz seien Öffnungsmöglichkeiten in Sicht.
Lockdown-länge: Die im Gesetz geregelten Maßnahmen sollen so lange gelten, bis ein Landkreis an drei aufeinanderfolgenden Tagen unter die 100er-inzidenz rutscht. Zwischen Tagen und Monaten ist also alles drin. Sachsens Ministerpräsident Kretschmer forderte allerdings in der „Welt“, das Gesetz müsse befristet werden – „das heißt, es muss automatisch auslaufen“. Die Spitze der Spd-fraktion verlangt schon jetzt eine Festlegung, was bei niedriger Inzidenz als Erstes geöffnet werde.
Die Machtfrage: Landkreise und einzelne Landespolitiker fühlen sich durch die Bundes-notbremse entmachtet. Auch Südwest-ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) schimpfte: „Diesen Einheitswahn teile ich überhaupt nicht.“