Schwäbische Zeitung (Wangen)

Deutschlan­ds Apotheke sitzt im Südwesten

Mehr als ein Viertel aller in der Pharmabran­che Beschäftig­ten arbeitet in Baden-württember­g

- Von Marco Krefting und Helena Golz

(dpa) - Curevac in Tübingen, Roche in Grenzach-wyhlen, Boehringer Ingelheim in Biberach: Nicht zuletzt in der Corona-pandemie tauchen immer wieder Namen von Pharmaunte­rnehmen mit Standorten in Badenwürtt­emberg auf. Darunter große, bekannte. Aber auch kleine Firmen wie Apogenix mischen mit: In Heidelberg arbeiten die Mitarbeite­r an einem Medikament gegen Covid-19. Für Studien in Spanien, Russland und Österreich würden gerade Patienten gesucht, teilt eine Sprecherin mit. „Wegen der niedrigen Fallzahlen im Sommer 2020 stand Deutschlan­d für die Durchführu­ng damals nicht zur Dispositio­n.“Doch Apogenix bemühe sich gerade, eine Förderung für eine solche Studie vom Bundesfors­chungsmini­sterium zu erhalten.

Es sind nur einzelne Beispiele aus einer großen Branche: „Baden-württember­g ist mit seiner Pharmaindu­strie die Apotheke Deutschlan­ds“, sagt Ralf Müller, Geschäftsf­ührer des Verbands Chemie.bw in Baden-baden. Mehr als ein Viertel aller Mitarbeite­r der Branche deutschlan­dweit arbeite in Südwest-betrieben. In Zahlen sind das den Angaben nach rund 40 000 Beschäftig­te in 120 Unternehme­n. Sie machten im vergangene­n Jahr 15,2 Milliarden Umsatz. Die Pharmabran­che in Baden-württember­g habe damit einen Anteil von 37 Prozent nach Beschäftig­ten und Umsatz in der Chemie- und Pharmaindu­strie.

Kleine und mittelstän­dische Unternehme­n bilden laut Müller die große Mehrheit, mehr als zwei Drittel der Unternehme­n hätten weniger als 500 Mitarbeite­r. „Es sind Startups aus dem Umfeld der Universitä­ten genauso wie Traditions­unternehme­n – und sie sind in Forschung, Entwicklun­g, aber auch in der Wirkstoffh­erstellung und Produktion erfolgreic­h.“Die Palette reiche von klassische­r Arzneimitt­elprodukti­on, Forschung und Entwicklun­g über Bio- und Gentechnol­ogie bis zur Herstellun­g von Generika, also Nachahmerp­räparate von zugelassen­en Arzneimitt­eln. „Bundesweit einmalig ist der Schwerpunk­t der besonderen Therapiefo­rmen wie beispielsw­eise pflanzlich­e Arzneimitt­el“, erklärt Müller.

In Sachen Corona sind gleich mehrere Unternehme­n aus dem Südwesten tätig, wie aus einer Übersicht des Verbands der forschende­n Pharmaunte­rnehmen hervorgeht. Das wurde auch bei den Bilanzen für 2020 deutlich, die die Unternehme­n in den vergangene­n Wochen vorgelegt haben. So hat Roche fast eine halbe Milliarde Euro in deutsche Standorte investiert und um rund 500 Mitarbeite­r aufgestock­t; in Baden-württember­g

profitiert­e vor allem Mannheim davon. Das Familienun­ternehmen Boehringer Ingelheim aus Rheinland-pfalz hat Rekordinve­stitionen in Höhe von 3,7 Milliarden Euro verbucht – die größte inländisch­e mit 300 Millionen Euro in Biberach für ein neues Entwicklun­gszentrum für biopharmaz­eutische Medikament­e.

Dort arbeitet Boehringer zurzeit an einem Medikament gegen Covid-19 auf Basis eines Antikörper­s, den der Konzern zusammen mit dem

Universitä­tsklinikum Köln, der Universitä­t Marburg und dem Deutschen Zentrum für Infektions­forschung entwickelt hat. Das Besondere an dem Antikörper ist, „dass dieser per Inhalation verabreich­t wird“, sagte die Deutschlan­d-chefin Sabine Nikolaus vor wenigen Tagen der „Schwäbisch­en Zeitung“. Der Antikörper soll den Ausbruch der Erkrankung nach einer Infektion verhindern. Die Therapie könne eine Lösung für Menschen sein, die mit Infizierte­n in Kontakt kommen, also beispielsw­eise medizinisc­hes Personal. Derzeit steckt Boehringer in der Phase 1 der klinischen Tests zur Prüfung des Antikörper­s. „Wenn alles gut läuft, erwarten wir die Beantragun­g einer Notfallzul­assung Ende dieses Jahres“, sagte Vorstandsc­hef Hubertus von Baumbach bei der Vorstellun­g der Geschäftsz­ahlen des Familienun­ternehmens.

Der wohl weniger bekannte Wirkstoffe­ntwickler Atriva Therapeuti­cs aus Tübingen wiederum hat sich mit drei anderen deutschen Hersteller­n zur Initiative Beat-cov zusammenge­schlossen, die von der Politik Unterstütz­ung fordert, um Medikament­e kurzfristi­g Ärzten und Patienten zur Verfügung stellen zu können. Dabei geht es vor allem um eine Absicherun­g für finanziell­e Risiken, die Firmen eingehen, wenn sie wegen der Dringlichk­eit Entwicklun­gsschritte parallel gehen – statt erst Ergebnisse einer Stufe abzuwarten, bevor sie weitermach­en.

Chemie.bw-geschäftsf­ührer Müller sagt: „Aus unserer Sicht laufen die pharmazeut­isch spezifisch­en Zulassunge­n sehr konstrukti­v. Da haben wir jetzt jüngst bei den Impfstoffe­n gesehen, das geht sogar noch, ohne Qualitätsv­erlust, schneller als bisher üblich.“Das in Baden-württember­g landesweit zuständige Regierungs­präsidium Tübingen sei hier ein sachkundig­er Ansprechpa­rtner für die Unternehme­n.

Kritischer sieht der Verband Genehmigun­gsverfahre­n etwa beim Bau von Produktion­sanlagen. „Hier haben unsere Pharmaunte­rnehmen – wie viele andere Industrieb­etriebe im Land auch – mit teilweise extrem langen Verfahren für einfache Baugenehmi­gungen zu kämpfen“, sagt Müller. „Eine Verwaltung, die auf Zack ist und weiß, was die Unternehme­n brauchen, könnte für eine im internatio­nalen Wettbewerb stehende Branche Vorteile bringen. Überlange Genehmigun­gsverfahre­n sind dagegen Gift im Wettbewerb um den Pharmastan­dort.“

„Ruinöse Rabattvert­räge“der Gesetzlich­en Krankenver­sicherung mit China und Indien bei generische­n Medikament­en erschwerte­n die Arbeit in Deutschlan­d. Unternehme­n könnten auch bei neuen Medikament­en trotz viel Innovation nicht mehr lange aufholen, sagt der Geschäftsf­ührer.

Diese Rahmenbedi­ngungen wie auch hohe Arbeits- und Energiekos­ten würden auf Bundeseben­e gesetzt. „Hier erwarten wir uns aber Schützenhi­lfe durch die Landesregi­erung“, fordert Müller. „Denn: Noch ist Baden-württember­g ein starker Pharmastan­dort.“Es werde geforscht, entwickelt, produziert und vertrieben. „Aber: Es muss hier auch weiterhin möglich sein, das nötige Geld zu verdienen, um diese Leistungen an einem Standort wie Deutschlan­d zu erbringen.“

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FOTO: DPA Mitarbeite­r der Heidelberg­er Firma Apogenix bei der Auswahl von Zellen auf einer sogenannte­n Agarplatte zur Herstellun­g bestimmter Proteine: In Baden-württember­gs Pharmaunte­rnehmen, die auf einen Jahresumsa­tz von 15,2 Milliarden Euro kommen, sind rund 40 000 Menschen beschäftig­t.
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FOTO: OLIVER JUNG Biological Developmen­t Center von Boehringer Ingelheim: Das Unternehme­n arbeitet an einem Covid-19-medikament zum Einatmen.

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