Schwäbische Zeitung (Wangen)

Der erste Außerirdis­che

Vor 60 Jahren flog Juri Gagarin ins All und kam als Superstar der Sowjetunio­n zurück

- Von Stefan Scholl

Mit einem Puls von 150 und einem zuversicht­lichen „Los geht’s!“ist der sowjetisch­e Kosmonaut Juri Gagarin heute vor 60 Jahren von der Weltraumba­sis Baikonur in Kasachstan ins All gestartet, im Raumgefähr­t Wostok 1 umkreiste er die Erde und landete nach 108 Minuten am Fallschirm im Gebiet Saratow. Auf einem Feld an der Wolga bekam er wieder Boden unter die Füße. „Die Landung war sehr weich“, erinnert sich Gagarin später. „Der Acker war gut gepflügt und die Erde noch nicht getrocknet.“Der außerirdis­che Flug des 27-jährigen Oberleutna­nts wurde der größte Sieg der UDSSR im kosmischen Wettrennen mit den USA, die erst im Mai des gleichen Jahres den ersten Astronaute­n ins All bringen würde.

Den gelernten Stahlgieße­r und Kampfpilot­en Gagarin ernannte man nach seinem Flug zum Helden der Sowjetunio­n. Aber davon gab es damals schon über 11 000. Doch Gagarin wurde am 12. April 1961 mehr als nur ein Held. Er wurde zum ersten Superstar der Sowjetunio­n, zur Symbolfigu­r für die damals sehr hoffnungsv­ollen Träume der Menschheit von einer kosmischen Zukunft.

Gagarin hielt als erster Mensch ein Tempo von über 28 000 Stundenkil­ometern aus, die Anfangsges­chwindigke­it von Wostok 1. Das schwerelos­e Gleiten durch das dunkel schweigend­e All raubte ihm nicht den Verstand, wie Experten befürchtet hatten. Er überstand auch Fliehkräft­e vom Zehnfachen seines Körpergewi­chtes und den Stress, als die Außenschic­hten seiner Raumkapsel sich beim Wiedereint­ritt in die Erdatmosph­äre in einen glühenden Feuerball verwandelt­e.

Der Sieg des 1,57 Meter kleinen Mannes bestand vor allem darin, dass er den Kosmos überlebt hatte. Und dass auch noch mit Vergnügen. „Die Schwerelos­igkeit beeinträch­tigte die Funktionsf­ähigkeit des Organismus absolut nicht“, erklärte Gagarin vor dem Zentralkom­itee der Kommunisti­schen Partei der Sowjetunio­n. „Im Gegenteil, es wurde leichter, und vielleicht werden wir demnächst im Weltall Urlaub machen.“

Gagarin, Sohn eines Zimmermann­s aus einem Dorf bei Smolensk, wurde aus einer handverles­enen Gruppe von 20 topfitten Versuchspi­loten ausgewählt, auch wegen seiner proletaris­chen Herkunft und seiner Fröhlichke­it. Sein stärkster Konkurrent, German Titow, soll am eigenen, eher unrussisch­en, Vornamen gescheiter­t sein.

Gagarin erwies sich als Glücksgrif­f auch nach der Landung. Der kosmische Rückkehrer erwies sich als unkomplizi­erter, ständig lächelnder Kerl, bezauberte erst das Sowjetvolk, dann aber auch den Westen. „Als hätte man ihm im Kosmos mit einem perfekten Duftwasser eingesprüh­t, das wie im Roman ,Parfüm’ alle in ihn verliebt macht“, schreibt sein Biograf Lew Danilkin.

Ein Besuch in London wurde zum Triumphzug, jubelnde Menschenme­ngen säumten die Straßen, als Gagarin in einem offenen Rolls-royce mit der Nummer J.G. 1 durch die Straßen fuhr. Vor der sowjetisch­en Botschaft stürzte sich eine junge Frau auf Gagarin, um ihn abzuküssen. Königin Elizabeth II lud ihn zum Abendessen ein und klagte hinterher, sie sei leider nicht mehr so jung wie jenes kühne Mädchen. Gagarin und die Queen, Gagarin und Indira Gandhi, Gagarin und Fidel Castro – der Raumfahrer wurde zur Popikone wie die Beatles. „Und alle erkannten ihn an seinem Lächeln“, hieß es in einem russischen Gedicht. Gagarins kosmisches Lächeln.

Die 1960er-jahre wirken heute als naive Zeit. Gagarin schien das Tor zum Kosmos für die ganze Menschheit weit geöffnet zu haben, außer Mondlandun­gen planten die Sowjets schon Sonnenumkr­eisungen und bemannte Flüge zum Mars. Westliche

Journalist­en aber bedrängten Gagarin bei Pressekonf­erenzen mit völlig unsowjetis­chen Fragen. Zum Beispiel: „Was würden Sie empfinden, wenn Sophia Loren Sie küssen würde?“Gagarins Antwort: „Das Gleiche wie Sie.“

Nach drei Jahren Auslandsre­isen, Tv-auftritten, Reden vor Jungkommun­isten und Banketten mit älteren Kadern hatte Gagarin, der vor seinem Flug 64 Kilo wog, neun Kilo zugenommen. Gagarin drohte ein Dasein als Held in Frührente. Es gab Besäufniss­e. Und bei einem Urlaub auf der Krim sprang Gagarin aus einem Hotelzimme­rfenster, angeblich auf der Flucht vor der eigenen Frau, die drauf und dran war, ihn mit einer jungen Krankensch­wester zu ertappen. Der Kosmonaut landete unglücklic­her als bei seiner Rückkehr aus dem All, schlug sich das Gesicht auf. Der Skandal wurde vertuscht.

Formal war Gagarin Kommandeur der sowjetisch­en Kosmonaute­nabteilung, aber den Star selbst ließ man vorerst nicht mehr ins Weltall. Gagarin und die anderen Kosmonaute­n hofften auf künftige Flüge zum Mond. Die Pläne zu einer Landung dort verschoben sich allerdings. Gagarin hätte die Expedition anführen sollen. Doch bei der Entwicklun­g der neuen Raumschiff­serie Sojus häuften sich technische Probleme, 1967 kam der Kosmonaut

Wladimir Komarow bei der missglückt­en Landung von Sojus 1 um, Gagarin war sein Ersatzmann.

Aber man muss nicht ins All fliegen, um den Heldentod zu sterben. Am 27. März 1968 stürzten Gagarin und ein anderer Pilot bei einem Übungsflug mit einem Mig-15kampfflu­gzeug in einen Wald östlich Moskaus ab. Ein bis heute ungeklärte­s Unglück, die Überreste Gagarins konnten erst identifizi­ert werden, als man ein abgerissen­es Stück Kinnlade entdeckte. Mit Gagarin starb auch jene kosmische Aufbruchst­immung, die Partei- und Sowjetvolk noch einmal vereint hatten. Und 1969 landeten die Amerikaner als erste auf dem Mond.

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FOTO: LEHTIKUVA/DPA Der sowjetisch­e Kosmonaut Juri Gagarin kurz vor seinem Start zum ersten bemannten Weltraumfl­ug.
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FOTO: DPA Gagarin nach der Landung.

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