Geheime Zeugen erzählen Grenzgeschichten
Wie die schweigsamen Siebener Zeichen versenkten, um die sich heute Sammler im Kreis Biberach reißen
- Am Anfang stand ein Stückchen gebrannten Tons mit einem groben B darauf. Gerd Maier hatte es beim Umgraben im Garten gefunden. Auf dem Vermessungsamt erfuhr er damals, dass er einen Marksteinzeugen oder Grenzzeugen entdeckt hatte. Das Interesse des Sammlers war geweckt.
Von da an graste der Biberacher Rathäuser, Schutthaufen und Flohmärkte ab. Er verhandelte auch mit staatlichen Vermessern, die er bei der Arbeit auf Feld und Flur antraf. Am Ende stand sein – noch mit dem Atari-rechner – getipptes Buch „Marksteinzeugen und Dienstsiegel im Landkreis Biberach“, das 1990 erschien. 1988 hatte der Architekt und Bauingenieur für die Abhandlung den Landespreis für Heimatforschung gewonnen.
Doch was sind überhaupt Grenzzeugen? Nun, dem Zweck nach sichern sie vorhandene Grundstücksoder sogar Ländergrenzen. Und das war notwendig, weil in früherer Zeit Spitzbuben nicht davor zurückschreckten, ihre Ackerfläche bei Nacht und Nebel oder noch besser bei starkem Regen durch das Versetzen der Grenzsteine zu vergrößern. Der so betrogene Nachbar tat sich schwer, diese Grenzverletzung zu beweisen, denn die Maßeinheiten Zoll und Fuß waren ungenau oder standen je nach Herrschaft für andere Längen. So galt im Hohenzollerischen der preußische, in anderen Landesteilen der württembergische Fuß. „Grenzstreitereien zogen sich über Generationen hin und finanzierten Generationen von Rechtsanwälten“, sagt Gerd Maier.
Das Versetzen von Grenzsteinen galt als Straftat. Die Kirche warnte, dass den Grenzfrevler der Teufel hole. Die Wirkung dieser Warnung: Mäßig. Der Sache Herr wurde man erst dank der Grenzzeugen oder Marksteinszeugen. Bei Adel und Orden waren die hübschen Teile schon früher in Gebrauch. Gemeinden und Städte in der Region übernahmen die so einfache wie effiziente Methode etwa ab dem 18. Jahrhundert, schätzt Gerd Maier. Der Trick bestand darin, dass irgendwo um den eigentlich Grenzstein herum der Zeuge vergraben war. Lag das Tonstück nördlich, südlich, westlich, östlich des Marksteins? War es hochkant, umgedreht, einzeln, paarweise oder gar zerbrochen vergraben? Diese Informationen waren bestens gehütete Geheimnisse. Die einzigen Eingeweihten hießen „die Untergeher“oder „Siebener“. Gewählte und auf Stillschweigen verpflichtete Männer. Ihr Wissen gaben sie erst auf dem Totenbett ihrem Nachfolger preis.
Die Geheimnisträger, die in manchen Gemeinden auch nur drei oder fünf waren, aber immer Siebener hießen, breiteten beim Setzen neuer Grenzsteine ihre, dafür eigens gedachten, weiten Mäntel aus. So konnte niemand sehen, was zwischen den Männern geschah. Sie vergruben nun den oder die Grenzzeugen, zechten bei der Gelegenheit wohl auch ausgiebig – und schwiegen fortan. Der Grenzfrevel war damit ausgeschlossen. Denn bei Nacht und Nebel auch noch den Zeugen zu entdecken und richtig mitzuversetzen, war quasi unmöglich.
Mit der Reichsgründung durch Bismarck 1871 wären die Grenzzeugen überflüssig geworden. Der Reichskanzler führte Meter und Zentimeter als allgemeine Maßeinheit ein. Und schon nach Ende der Vielstaaterei durch Napoleon hatte man begonnen, das Ländle genau zu vermessen. Allein: Die Oberschwaben trauten den Geometern nicht. Sie bestanden darauf, Grenzen weiter mit den Tontäfelchen zu „bezeugen“.
Bis in die 1960er-jahre wurden Marksteinzeugen hergestellt. Heute sind sie beliebte Sammlerstücke. Bis zu 100 D-mark hat Gerd Maier für manchen bezahlt. Andere gab es auch umsonst auf den Rathäusern oder anfangs noch im Tausch gegen ein Bier, erinnert er sich. In seinem Büro im Kreisplanungsamt hatte der heute 79-Jährige eine Karte des Landkreises mit allen Marksteinzeugen aufgehängt, später hat er seine Sammlung dem Museumsdorf Kürnbach übergeben.
Schöpfer der Grenzzeugen war häufig der örtliche Hafner, wie Maier aus den Rechnungsbüchern der Gemeinden und Städte erfahren hat. Darüber hinaus gab es auch wahre Künstler wie August Weber aus Delkhofen bei Spaichingen, den Maier noch kennengelernt und befragt hat. Der „Hafner-august“versorgte Gemeinden im weiten Umkreis bis in die 60er-jahre mit Grenzzeugen. Viele schlicht und einander ähnlich. Viele aber auch detailliert und liebevoll, wie jene für Ertingen, Mittelbiberach und Laupheim. Die letztgenannte frühere Oberamtsstadt hat sich übrigens seit 1840 außerordentlich große, schöne und verhältnismäßig kostspielige Marksteinzeugen geleistet. Beim Umzug ins „neue“Rathaus in den 1970er Jahren
war die letzte Kiste mit August Webers Kunststücken aber im Bauschutt gelandet. „Zum Heulen“, notiert Gerd Maier in seinem Buch. Unter Sammlern sind die Laupheimer Zeugen heute heiß begehrt. Es soll sogar Fälschungen geben.
In Biberach behalf man sich dagegen im 19. Jahrhundert mit einfachen Tontafeln, in die ein grobes B geprägt war. So wie jene, die Maier in seinem Garten fand. Erst 1912 leistet man sich eine in aufwändigere ungewohnte Dreiecksform. In den 1930er-jahren schließlich schmückte sich Biberach mit Weber-zeugen, sogar mit Glasur. Diese glänzende Ausstattung war im heutigen Kreis eher selten. In der weiteren Umgebung aber gängig. Tübingen leistete sich sogar Zeugen aus Keramik, in Bayern gab es welche aus Glas. „Bei uns hat man halt gespart“, mutmaßt der Sammler.
Maier hat sich inzwischen anderen Objekten zugewandt. Er erforscht und sammelt Heißluftmotoren aus aller Welt. Grenzen werden heute mittels GPS bestimmt. Gerd Maiers tönernen Schätze liegen im Kürnbacher Magazin und sind für die Öffentlichkeit nicht sichtbar. Immerhin: Die unterschiedlichen Biberacher Grenzzeugen gießt Maiers Schwiegertochter in der Chocolaterie Maya zurzeit zu süßen Repliken.