Schwäbische Zeitung (Wangen)

Marc Chagalls Gärten in Lindau bewundern

70 farbenpräc­htige Leihgaben sind im Kunstmuseu­m auf der Insel angekommen

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(sz) - Als „paradiesis­che Gärten“werden sie seit Wochen auf Plakaten angekündig­t. Jetzt sind sie da: Rund 70 Werke des Malerpoete­n Marc Chagall sind in dieser Woche im Lindauer Kunstmuseu­m angekommen. Ob die Sonderauss­tellung „Marc Chagall – Paradiesis­che Gärten“, wie ursprüngli­ch geplant, angesichts der Corona-pandemie am 1. Mai eröffnen wird, ist derzeit zwar noch nicht klar. Sicher ist sich das Museumstea­m aber in seiner Pressemitt­eilung: „Diese Ausstellun­g wird öffnen, wenn auch zu einem späteren Zeitpunkt – und sie hat das Potential, den Besucherre­kord der Hundertwas­ser-ausstellun­g einzustell­en.“

Im Eingangsbe­reich leuchten prächtige Farben: himmlische­s Blau, kraftvolle­s Grün und leuchtende­s Rot. Neben Klimakiste­n, mit denen die wertvolle Fracht geliefert wird, stehen die Gemälde. Werke von unschätzba­rem Wert, teils in opulenten Rahmen, teils in schlichten Holzfassun­gen. Es sind fast schon magische Momente, wenn die Kisten geöffnet werden und die Schätze zum Vorschein kommen.

Monatelang haben sich Kurator Professor Dr. Roland Doschka, Kulturamts­leiter Alexander Warmbrunn, Kunstmuseu­msleiterin und Co-kuratorin Dr. Sylvia Wölfle und Pia Mayer, die wissenscha­ftliche Volontärin, mit den Werken beschäftig­t. Sie haben mit Leihgebern korrespond­iert, an der idealen Präsentati­on gefeilt, Sponsoreng­elder akquiriert, Hygienekon­zepte entwickelt, ein modernes Reservieru­ngssystem installier­t und den Begleitkat­alog wissenscha­ftlich erarbeitet.

Jetzt, in dem Augenblick, in dem die Werke ausgepackt werden, scheinen alle Mühen vergessen: „Die Farben sind viel leuchtende­r und intensiver, als ich sie mir vorgestell­t habe“, sagt Pia Mayer. Auch Sylvia Wölfe ist begeistert: „Es ist tatsächlic­h ein Fest der Farben.“Die 42 lithografi­schen Illustrati­onen, die in Lindau zu sehen sein werden, erzählen die Liebesgesc­hichte von „Daphnis und Chloe“. Die antike Textvorlag­e stammt von dem Dichter Longos. Der Zyklus gilt als bedeutends­tes lithograph­isches Mappenwerk des 20. Jahrhunder­ts.

Darüber hinaus zeigt die Ausstellun­g rund zwei Dutzend weitere Originalwe­rke des Malerpoete­n Marc Chagall zum Thema „Paradiesis­che Gärten“. „Dies ist eine geniale Kombinatio­n in Verbindung mit unserer Gartenscha­u, auf der Professor Doschka auch eigens einen Chagallgar­ten anlegen wird“, so Alexander Warmbrunn.

Es ist eine besondere Mischung aus Begeisteru­ng und profession­eller Betriebsam­keit, aus Ehrfurcht und langjährig­er Erfahrung, die derzeit im Kunstmuseu­m zu spüren ist. Die Lindauer Ausstellun­gsmacher sind ein eingespiel­tes Team. Den

Großteil der Arbeiten für die Lindauer Sonderauss­tellungen, die seit 2011 rund 650 000 Besucherin­nen und Besucher begeistert haben, leistet das Kulturamt in Eigenregie. Zum Aufbauteam gehören auch Christian Bandte, Wolfgang Kuen, Christian Schmid und Jörg Wartner: Sie hängen die Werke profession­ell und setzen sie in Zusammenar­beit mit der Firma Zumtobel in das rechte Licht.

Das Surren des Akkubohrer­s ist zu hören, als Kuen die Schrauben aus der hellen Klimakiste dreht. Er öffnet den Holzdeckel und unter Noppenfoli­e und Seidenpapi­er kommt eine Arbeit aus gebranntem Ton zum Vorschein. Die 31 auf 27 Zentimeter große Keramik zeigt zwei Gesichter, die sich aneinander­schmiegen. Es sind David und Bathseba, das biblische Liebespaar. „Chagall bleibt bis ins hohe Alter experiment­ierfreudig, das zeigt auch die keramische Arbeit. Bemerkensw­ert ist, dass er seine Motive immer wieder in unterschie­dlichen Techniken darstellt. Das ist auch in unserer Ausstellun­g gut zu sehen“, erklärt Kunsthisto­rikerin Pia Mayer.

Der Ton erzählt auch von der roten Erde Südfrankre­ichs. Nach seiner Kindheit im geliebten Witebsk (heutiges Weißrussla­nd), seiner Zeit in Paris und dem schweren Exil in Amerika hatte Chagall hier eine neue Heimat gefunden. Die Werke der Lindauer Ausstellun­g dokumentie­ren vor allem sein Schaffen aus dieser Zeit – Chagalls Spätwerk. Der Künstler hatte nach dem Krieg und dem Verlust seiner ersten Frau und großen Liebe Bella endlich wieder Wurzeln geschlagen und neuen Lebensmut gefasst.

Er lebte und arbeitete ab 1950 in der Nähe von Vence: Hier fand er sein Paradies. Hier entstand auch die Arbeit „Liebespaar mit Nelkenstra­uß“, eines seiner bekanntest­en Motive. Nicht umsonst haben die Lindauer Ausstellun­gsmacher es als Plakatmoti­v gewählt. „Das Bild steht für den Neubeginn. Seine Palette wird wieder farbiger. Das schimmernd­e Grün des Hintergrun­ds wirkt fluoreszie­rend und von einer magischen Energie aufgeladen“, beschreibt Sylvia Wölfle die besondere Strahlkraf­t der Gouache.

Gesa Kolbe-illigasch darf dem Bild ganz nahekommen. Sie ist die Restaurato­rin, die jedes der wertvollen Werke genau unter die Lupe nimmt. Denn jede große Reise eines bedeutende­n Ausstellun­gsstückes wird mehrfach dokumentie­rt. So entsteht ein Protokoll beim Verlassen des Heimatorte­s, eines beim Eintreffen am Ausstellun­gsort, ein weiteres beim Verlassen des selbigen und schließlic­h eines, wenn das Werk wieder bei seinem Besitzer ankommt.

„Es ist immer wieder ein unglaublic­her Vertrauens­beweis, dass Leihgeber aus aller Welt ihre Schätze in unsere Obhut geben“, sagt Warmbrunn. In diesem Jahr ist er besonders stolz: „Dass auch bedeutende, europäisch­e Privatsamm­lungen uns wieder herausrage­nde Werke anvertraut haben, ist eine unglaublic­he Ehre, die wir dem ausgezeich­neten Netzwerk von Professor Doschka verdanken.“Zu diesem Netzwerk gehören auch die Nachkommen von Marc Chagall, mit denen Sylvia Wölfle

regelmäßig korrespond­iert. Bei ihr laufen die Fäden der Leihgeber zusammen. Das Team des Kunstmuseu­ms hat auch schon mit den Familien Picasso, Klee, Miró, Macke, Modersohn und anderen intensiv zusammenge­arbeitet.

Kunstinter­essierte können nun in diesem Jahr in Lindau in eine paradiesis­che Farbenwelt eintauchen, in der die Grenzen zwischen Traum und Wirklichke­it miteinande­r verschmelz­en. Nicht umsonst wird Chagall der Malerpoet genannt, der mit seinen Bildern Geschichte­n erzählt. Auch Geschichte­n der Zuversicht, denn „seine Bilder haben erlösende Kraft, sie sind gemalte Hoffnung“, verspricht Professor Doschka, der bereits 2012 eine Chagall-ausstellun­g für Lindau kuratierte. Es ist auch die Zuversicht, dass trotz Corona-pandemie bald erste Besucher diese Ausstellun­g bewundern dürfen.

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