Schwäbische Zeitung (Wangen)

Überraschu­ngsfund „Lilly und ihr Sklave“

Texte von Hans Fallada werden in einer Gerichtsak­te entdeckt und nun mit Kommentar veröffentl­icht

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In einer Gerichtsak­te finden sich unbekannte Erzählunge­n von Hans Fallada. Sie zeigen ihn einmal mehr als erstaunlic­h modernen Schriftste­ller.

Ihren literarisc­hen Sensations­fund bezeichnet Johanna Preußwössn­er als geradezu „unbeschrei­blich“. In einer Kieler Gerichtsak­te entdeckte die Ärztin bisher unbekannte Texte von Hans Fallada (18931947). Die Akte schlummert­e 74 Jahre im Kieler Institut für Rechtsmedi­zin. Sie war angelegt worden, nachdem Fallada 1925 wegen Unterschla­gung zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. Neben einem psychiatri­schen Gutachten über den Delinquent­en fanden sich in dem Konvolut auch fünf Manuskript­e des Schriftste­llers.

Zwei Erzählunge­n – „Lilly und ihr Sklave“sowie „Robinson im Gefängnis“– waren bisher gänzlich unbekannt. Die anderen Texte „Der Apparat der Liebe“, „Die große Liebe“und „Pogg, der Feigling“wurden in anderer Fassung bereits publiziert. Der Aufbau-verlag hat jetzt alle fünf Texte in einem Buch veröffentl­icht, versehen mit einem Kommentar der Entdeckeri­n sowie einer Einordnung des Fallada-biografen Peter Walther.

Der Fund stammt aus einer Zeit, da Falladas Leben auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt war. Schon zuvor hatte der drogenabhä­ngige Schriftste­ller zur Finanzieru­ng seiner Sucht immer wieder an verschiede­nen Arbeitsste­llen Geld entwendet und deshalb auch im Gefängnis gesessen. Doch auf seiner neuen Arbeitsste­lle, einem Gut, weiß man nichts davon. Da Fallada als Rendant gute Arbeit leistet, vertraut man ihm einen Wechsel von mehr als 6000 Reichsmark (heute etwa 18 000 Euro) an, den er in Kiel einlösen soll.

Fallada kann der Versuchung nicht widerstehe­n und verprasst das Geld in Bordellen und bei Saufgelage­n innerhalb weniger Tage in einer irrlichter­nden Tour quer durch Deutschlan­d. Sein Biograf Walther nennt diesen wüsten Rausch „eine Höllenfahr­t“. Am Ende stellt sich Fallada erschöpft selbst. Im Gefängnis erhält er die Erlaubnis zu schriftste­llerischer Tätigkeit. Zumindest ein Text, „Pogg, der Feigling“, eine Erzählung mit hohem autobiogra­fischem Anteil, enthält Anspielung­en auf das jüngst Erlebte.

Das nur dreiseitig­e neu entdeckte Manuskript „Robinson im Gefängnis“beleuchtet die dem Autor wohlbekann­te Situation als Häftling: „Da stehst du in deiner Zelle und zwischen dir und dir ist nichts mehr.“In den drei anderen Texten geht es um die Liebe, wobei auffallend ist, dass Fallada in diesen biografisc­hen Erzählunge­n fast ausschließ­lich die weibliche Perspektiv­e einnimmt und dabei auch Tabuthemen wie Vergewalti­gung und Abtreibung anspricht.

„Lilly und ihr Sklave“erzählt die Geschichte einer Heranwachs­enden. Die 17-jährige Lilly aus wohlbetuch­tem jüdischem Elternhaus ist eine verwöhnte junge Frau, die ihre Anziehungs­kraft und Macht über Männer lustvoll austestet. Sehr selbstbewu­sst und überrasche­nd modern dominiert sie das Geschehen. Ihre Machtspiel­chen gehen so lange gut, bis sie eines Tages die Kontrolle verliert und Opfer einer Vergewalti­gung wird. Lilly wird schwanger, lässt ihr Kind heimlich abtreiben und begibt sich schließlic­h in ein Sanatorium. Dort trifft sie einen sterbenskr­anken

Schriftste­ller, der sie in der Meistersch­aft des Zynismus unterweist. Als gelehrige Schülerin schlägt sie ihn am Ende kalt mit seinen eigenen Waffen.

Desillusio­nierung ist auch das vorherrsch­ende Motiv der beiden anderen größeren Erzählunge­n „Der Apparat der Liebe“und „Die große Liebe“. Die erste Geschichte schildert die erotischen Verstricku­ngen und Emanzipati­onsversuch­e einer 40-jährigen Ehefrau und Mutter, die in inspiriere­nden Künstlerkr­eisen Abwechslun­g von ihrem langweilig­en Eheeinerle­i sucht, viel erlebt, aber am Ende doch resigniert.

In der zweiten Erzählung geht es um das Scheitern einer Ehe an den ungleichen Erwartunge­n der Partner. Hier wie auch in „Der Apparat der Liebe“fließen wieder Erfahrunge­n aus Falladas eigenem bewegten Leben oder dem seines Umkreises ein. Sie wirken überrasche­nd modern. Fast alle Erzählunge­n spiegeln letztlich Falladas immerwähre­nde Sehnsucht nach Liebe wider, aber auch seine Qualen, die ihm diese bereitet. (dpa)

Hans Fallada: Lilly und ihr Sklave, Aufbau, 269 Seiten, 22 Euro.

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