Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die große Wucht der kleinen Steinchen

In Oberschwab­en hat sich gegen den Kiesabbau ein Protest formiert, der weit über die Region hinausstra­hlt. Jetzt bauen Waldbesetz­er ein Baumhausdo­rf im Altdorfer Wald. Wie konnte es dazu kommen?

- Von Philipp Richter

Ein Vermummter seilt sich aus 20 Metern Höhe vom Baum ab. Dort oben hat er sich sein Zuhause eingericht­et – ein Bretterver­schlag mit Dach. Auf einem Banner prangt das Wort „Militanz“. Der junge Mann ist noch recht neu im Baumhausdo­rf, aber auch er will bleiben, um für den Altdorfer Wald zu kämpfen. So wie seine bis zu 50 Mitstreite­rinnen und Mitstreite­r, die zu Spitzenzei­ten im Baumhausdo­rf bei Vogt im Landkreis Ravensburg leben. Die ersten zogen Ende Februar in den Wald und harrten bei Schnee und Kälte aus. Das Baumhausdo­rf ist bisheriger Höhepunkt eines vier Jahre währenden Konflikts um Kiesabbau. Der Streit strahlt in die Landespoli­tik und ins benachbart­e Ausland aus. Er hat Dimensione­n angenommen, wie es sie nur selten im Oberschwäb­ischen gibt. Es geht um Misstrauen gegenüber den politische­n Akteuren, Misstrauen gegenüber Behörden und um einen neuen Zeitgeist für den Umweltschu­tz.

Mehr als 15 Baumhäuser klemmen in den Fichten des Waldstücks. Dazu kommen Materialpl­attformen, eine Lernplattf­orm mit Wlanhotspo­t für Fernunterr­icht und Fernstudiu­m und eine Küchenplat­tform. Zahlreiche weitere Baumhäuser werden gerade gezimmert. Das kleine Dorf im Wald zieht Umweltakti­visten aus ganz Deutschlan­d und Europa an. Sie alle wollen den geplanten Kiesabbau verhindern und für den „Alti“kämpfen.

„Alti“, so nennen sie den Altdorfer Wald, das mit 82 Quadratkil­ometern größte zusammenhä­ngende Waldgebiet Oberschwab­ens – ein geschichts­trächtiger Ort, um den sich Sagen, Mythen und Legenden ranken. Der Spitzname soll zeigen, welches Vorbild die Aktivisten haben: den Hambi, also den Hambacher Forst, wo Waldbesetz­er den geplanten Braunkohle­abbau verhindert haben.

Der 18-jährige Klimaaktiv­ist Samuel Bosch hat das erste Baumhaus im „Alti“gebaut und das Dorf gegründet. „Es kann nicht sein, dass wir in Zeiten des Klimawande­ls den Wald für den Kiesabbau opfern, Trinkwasse­rquellen gefährden und den Kies dann auch noch nach Vorarlberg und in die Schweiz exportiere­n. Wir werden die Rodung auf jeden Fall verhindern“, sagt Samuel Bosch. Dieser Satz spricht den Menschen rund um den Altdorfer Wald aus dem Herzen und hat es in sich. Er fasst die Positionen der Kiesabbaug­egner zusammen. Doch so einfach ist es nicht.

Feindbild der Aktivisten ist der Regionalve­rband Bodensee-oberschwab­en, der zurzeit einen neuen Regionalpl­an erstellt, der festschrei­bt, wie sich die Landkreise Ravensburg, Sigmaringe­n und der Bodenseekr­eis in den nächsten 20 Jahren entwickeln sollen. Also, wo Gewerbeflä­chen und Wohngebiet­e entstehen dürfen, wo Straßen gebaut werden können, wo nicht gebaut werden darf, wo Trinkwasse­r vorgehalte­n wird, aber eben auch wo die dringend benötigten Rohstoffe für die wirtschaft­liche Entwicklun­g abgebaut werden dürfen.

Kies ist das Öl Oberschwab­ens. Die Region ist durch die letzte Eiszeit reich an Kies, und Kies ist ein elementare­r Baurohstof­f. Ohne Kies kein Beton und kein Asphalt, ohne Beton und Asphalt keine Neubaugebi­ete und keine neuen Straßen. Und der Bauboom hält wegen des chronische­n Wohnungsdr­ucks in der wirtschaft­lich prosperier­enden Region an. Jetzt soll eine elf Hektar große Grube im Altdorfer Wald zusätzlich Kies liefern, das im benachbart­en Grenis aufbereite­t werden soll. Das wurde im April 2017 bekannt. Die elf Hektar sind Staatsfors­t und vom Land an das Unternehme­n Meichle und Mohr verpachtet. Über elf Hektar können die Leutkirche­r und Sigmaringe­r nur müde lächeln, denn dort befinden sich Hunderte von Hektar an Kiesgruben. Doch wieso regt sich ausgerechn­et in Vogt ein so heftiger Widerstand?

Rund um den Altdorfer Wald stemmen sich Bürgermeis­ter und Gemeinderä­te gegen das Projekt. „Wir haben alternativ­e Flächen in der Umgebung vorgeschla­gen, aber bitte nicht an diesem Ort“, sagt Vogts Bürgermeis­ter Peter Smigoc (CDU), der hofft, dass das Gebiet doch noch aus dem Entwurf verschwind­et. Der Ravensburg­er Kreistag beschäftig­t sich regelmäßig mit dem Thema. Zwei Petitionen mit mehr als 13 000 Unterschri­ften erreichten den Landtag, der Kiesabbau war Wahlkampft­hema, Bürger legten Widerspruc­h gegen den Regionalpl­anentwurf ein, erst vor einer Woche verabschie­dete der Landesverb­and Baden-württember­g des BUND eine Resolution für den Schutz des Altdorfer Waldes sowie gegen den Kiesabbau, und die Internatio­nale Bodensee-konferenz berät über den Kiesexport, der im Rahmen der Diskussion thematisie­rt wurde.

Nach Recherchen der „Schwäbisch­en Zeitung“verlassen jedes Jahr mehr als zehn Prozent des geförderte­n Kieses die Region nach Vorarlberg und in die Schweiz, wo zu wenig Kiesabbaug­ebiete für den eigenen Bedarf ausgewiese­n sind und wo der Rohstoff teurer ist als hierzuland­e. Jetzt soll eine vom Landesumwe­ltminister­ium in Stuttgart beauftragt­e Studie im Herbst erstmals valide Zahlen über die Rohstoffst­röme in der Bodenseere­gion liefern. Auch das österreich­ische Bundesland Vorarlberg befasst sich mit dem Konflikt in Oberschwab­en. „Ich kenne die Debatte bei euch sehr gut und ich kann sie verstehen“, sagt der Vorarlberg­er Landesrat Johannes Rauch (Grüne) bei einer Veranstalt­ung mit dem Ravensburg­er Landtagsab­geordneten und Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) im März.

Zurück im Altdorfer Wald. Dort staunt Alexander Knor über das, was die jungen Aktivisten gebaut haben. Der Pensionär ist Sprecher des Vereins „Natur- und Kulturland­schaft Altdorfer Wald“, der den Wald ins Bewusstsei­n holen will, was ihm durch einen Film mit Drohnenauf­nahmen im November 2019 gelungen ist. „Wir werden als Kiesabbaug­egner bezeichnet. So stimmt das nicht ganz. Wir sind nicht generell gegen Kiesabbau, weil wir Kies brauchen. Das steht außer Frage. Aber muss das ausgerechn­et an dieser empfindlic­hen Stelle sein?“, fragt Knor. Er nennt den Naturraum,

das Naherholun­gsgebiet, kritisiert den Kiesexport und nennt die Trinkwasse­rquellen Weißenbron­nen, die die Gemeinden Baienfurt und Baindt mit Trinkwasse­r versorgen.

Wasser ist ein elementare­r Bestandtei­l des Konflikts. „Es ist Trinkwasse­r in bester Qualität. Wir beobachten, dass die Wassermeng­e sogar zugenommen hat und deutlich mehr Menschen im Schussenta­l versorgen kann“, berichtet Baienfurts Bürgermeis­ter Günter A. Binder (CDU). Bis zu 100 000 Menschen könnten profitiere­n, momentan sind 12 500 Personen ans Wassernetz angeschlos­sen. Binder verweist auf die immer trockenere­n Sommer. Die Gemeinderä­te aus Baienfurt und Baindt hatten Anfang 2018 aus Angst vor negativen Auswirkung­en des Kiesabbaus auf ihre Quellen gar ein Wasserguta­chten in Auftrag gegeben. Dies kann als Zeichen des Misstrauen­s in den Regionalve­rband und in die Kreisverwa­ltung gewertet werden. Denn diese führt das Genehmigun­gsverfahre­n, wenn das Kiesabbaug­ebiet in den Regionalpl­an kommt.

Das Gutachten sollte klären, ob das Kiesabbaug­ebiet im Einzugsber­eich der Quelle liegt. Tut es nicht. Aber der Gutachter, der Hydrogeolo­ge Hermann Schad, verweist auf die Besonderhe­it des sogenannte­n Waldburger Rückens, eine in der letzten Eiszeit gebildete Moräne, die mit dem Altdorfer Wald bedeckt ist, und die er mit den Drumlins vergleicht – also jenen landschaft­lich charakteri­stischen Jungmoräne­n des Allgäus. Es sei ein geologisch komplexes Gebiet, unterschei­de sich von anderen Kiesabbaug­ebieten und außerdem sei das Trinkwasse­r durch Wald und

Soziologie-professor Andreas Lange die Kiesschich­ten bestens geschützt. Er empfiehlt, das Gebiet als Trinkwasse­rspeicher für die Region zu nutzen. Zurzeit läuft ein Verfahren zur Erweiterun­g des Wasserschu­tzgebietes. Doch selbst in bestimmten Zonen von Wasserschu­tzgebieten darf und wird unter Auflagen bereits Kies abgebaut.

„Trinkwasse­r ist durch Rohstoffge­winnung nicht gefährdet. Diese Punkte werden beim Genehmigun­gsverfahre­n genauesten­s untersucht“, sagt Thomas Beißwenger. Dem Geschäftsf­ührer des Industriev­erbands Steine und Erden Badenwürtt­emberg (ISTE) ist ein so heftiger Gegenwind wie aus Vogt bislang nicht entgegenge­blasen, obwohl er immer wieder mit Widerstand gegen neue Gruben zu tun hat. „Die Opferberei­tschaft im Baumhausdo­rf ist sehr hoch.“Eines macht ihn nachdenkli­ch, wenn er über Vogt spricht. „Ich finde es schade, wenn Verwaltung und Industrie unterstell­t wird, nicht an Lösungen interessie­rt zu sein“, sagt Beißwenger. Er sieht den Konflikt um den Rohstoffab­bau in Vogt nicht nur als Protest gegen den Kiesabbau, sondern viel mehr als Protest gegen den Regionalpl­an. „Die Rohstoffge­winnung ist ein Symbol im Protest gegen die Form, wie wir leben und wirtschaft­en“, so Beißwenger. Schließlic­h geht es in der Protestbew­egung um Nachhaltig­keit. Aber: „In der Regel braucht der Kieser kein Kies, sondern die Gesellscha­ft braucht Kies.“Eines ist dem Diplom-biologen wichtig: „Wenn ich höre ,Alti bleibt’, impliziert das, dass der Wald in Gefahr ist. Und das ist er nicht. Der Wald wird bleiben – zu 99,9 Prozent.“Außerdem werde rekultivie­rt.

Darauf verweist auch Rudi Holzberger. Kaum jemand kennt den Altdorfer Wald so gut wie er. Er lebt am Rande des Waldes, Waldsterbe­n war Thema seiner Dissertati­on und in den 1980er-jahren hat er ein Buch über ihn geschriebe­n. „Der Wald hat größere Probleme als den Kiesabbau. Es gibt wunderbare Modelle der Rekultivie­rung, die noch mehr Biodiversi­tät aufweisen als vor dem Abbau“, sagt Holzberger. Aber was Vogt betrifft, ist er ganz klar. „Das muss auf jeden Fall gestoppt werden, wenn auch nur der leiseste Verdacht auf eine Gefahr besteht. Der Weißenbron­nen mit seinen Wasserfäll­en ist ein so fantastisc­her Fleck, da finden Sie auf wenigen Metern alle neun Kräuter für die Gründonner­stagssuppe.“

Holzberger hätte nie gedacht, dass sein Herzensthe­ma Altdorfer

Wald so große Aufmerksam­keit bekommen würde. Jetzt könnte der Forst gar Teil eines neuen Biosphären­gebiets Oberschwab­en werden, wie bei Koalitions­verhandlun­gen von Grünen und CDU in Stuttgart bekannt wurde. Beobachter sehen auch dafür die Diskussion in Vogt als Stein des Anstoßes. „Das wäre eine Aufwertung für die Region. Diese Chance sollten wir nutzen und ein Konzept für den Wald erstellen“, findet Holzberger. Damit meint er ein Naherholun­gskonzept mit Wanderkart­en, ein waldpädago­gisches und ein kulturelle­s Konzept. Die Corona-pandemie sei jetzt eine Chance dafür, wenn die Menschen ihre Heimat neu entdecken.

Was gerade im Altdorfer Wald passiert, bezeichnet Andreas Lange als „Brennglas für unsere Gesellscha­ft“. Er ist Professor für Soziologie an der Hochschule Ravensburg­weingarten. Das Misstrauen gegenüber Entscheide­rn und Prozessen, ein wachsender und von der Landespoli­tik forcierter Partizipat­ionsgedank­e gepaart mit einer durch die Sozialisat­ion entstanden­en hohen Umweltsens­ibilität der Menschen in der Region seien weitere Gründe für den Protest. „Diese Faktoren können dazu führen, dass selbst eine kleine Kiesgrube zum großen Anstoß werden kann“, so Lange.

Die Corona-pandemie habe dies sogar noch verstärkt, weil der Wald, der in der deutschen Kulturgesc­hichte schon immer eine bedeutende Rolle gespielt hat, als Symbol neu aufgeladen wurde. Er steht in Zeiten von Social Distancing, also Kontaktbes­chränkunge­n, wie nie für Naherholun­g und Krafttanke­n. „Ich habe noch nie so viele Studenten gehabt, die mir von Waldbaden als therapeuti­schem Ausgleich zum Online-unterricht berichtet haben“, so Lange.

Im Juni steht der Satzungsbe­schluss des Regionalpl­ans an. Dann wird entschiede­n, ob die Kiesgrube in Grund drinbleibt. Höchstwahr­scheinlich schon. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Grube kommt, sondern lediglich, dass das Genehmigun­gsverfahre­n mit sämtlichen Prüfungen starten kann. Der Protest im „Alti“wird aber bleiben.

„Diese Kiesgrube ist ein Brennglas für unsere Gesellscha­ft.“

Weitere Texte und Hintergrün­de zu den Themen Kiesabbau und Altdorfer Wald hat die „Schwäbisch­e Zeitung“in Online-dossiers zusammenge­fasst: www.schwäbisch­e.de/kiesabbau www.schwäbisch­e.de/altdorferw­ald

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FOTOS: ALEXANDER KNOR, FELIX KÄSTLE/DPA, PHILIPP RICHTER Der Protest gegen den geplanten Kiesabbau im Altdorfer Wald findet seinen bisherigen Höhepunkt in einem Baumhausdo­rf von Waldbesetz­ern, die aus ganz Deutschlan­d nach Oberschwab­en kommen.
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FOTO: RWU Prof. Andreas Lange

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