Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Leute haben Impfungen eingeforde­rt, die nicht an der Reihe waren“

Landrat Elmar Stegmann blickt auf ein Jahr Pandemie zurück, appelliert an die Menschen und übt Selbstkrit­ik

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- Der Lankreis Lindau hat wegen seiner ganz unterschie­dlichen Infektions­zahlen in den Gemeinden und der Grenze zu Österreich eine besondere Pandemie erlebt. Auch für das Landratsam­t war das vergangene Jahr ein großer Ausnahmezu­stand. Im Interview mit Ingrid Grohe blickt Landrat Elmar Stegmann zurück. Welche Kritik der Landrat nachvollzi­ehen kann, was ihn ärgert und was hätte besser laufen könnte.

Herr Stegmann, lassen Sie sich die Zahl der Neuinfekti­onen täglich von Ihrem Gesundheit­samt direkt mitteilen oder schauen Sie auf die Seite des Robert-koch-instituts? Ich habe den ganzen Tag am Bildschirm unser System offen und bin somit immer aktuell über die Entwicklun­gen informiert. Und natürlich informiere ich mich über die Lage auch abends und am Wochenende.

Gab es im vergangene­n Jahr Tage, an denen Sie sich angesichts der aktuellen Zahlen ohnmächtig gefühlt haben?

So würde ich das nicht sagen. Wir arbeiten seit Februar vergangene­n Jahres sieben Tage die Woche. Wir, das ist unser Führungste­am mit den leitenden Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn aus den unterschie­dlichen Bereichen. Daneben kann ich mich auf viele weitere engagierte Kolleginne­n und Kollegen im Haus verlassen. Drei Tage hatte ich im vergangene­n Jahr Urlaub, aber auch da wurde ich angerufen.

Haben Sie im Sommer 2020, der sich für viele Menschen vergleichs­weise entspannt anfühlte, mit einer zweiten, gar dritten Pandemiewe­lle gerechnet?

Ja, immer. Aber schon damals, wie auch jetzt, stellen wir fest, dass die Maßnahmen immer weniger Akzeptanz finden – ob das beim contact tracing oder an der Hotline ist. Corona fordert uns alle sehr. Aber wir müssen die Nerven behalten, damit wir durch die Pandemie kommen. Ich denke, das gelingt uns im Landkreis Lindau ganz gut. Das zeigen auch die aktuellen Zahlen im Vergleich zu Nachbarlan­dkreisen.

Der Ausbruch der Pandemie ist das zweite Ereignis nach dem Flüchtling­szustrom 2015, das Ihre Behörde mit einer Riesenhera­usforderun­g konfrontie­rte, auf die sie sich nicht vorbereite­n konnte. War es beim zweiten Mal leichter, in Ihrem Haus so viel zusätzlich­e Kapazitäte­n zu mobilisier­en?

Auch wenn beide Situatione­n große Herausford­erungen darstellen, so können sie nicht miteinande­r verglianru­f chen werden. Für die Bewältigun­g der Pandemie mussten wir fast für das komplette Haus die Arbeits- und teilweise auch Organisati­onsstruktu­ren verändern und viel zusätzlich­es Personal einstellen. In Hochphasen hatten wir über 100 Mitarbeite­r im Gesundheit­samt, teilweise waren und sind Beamte von anderen Behörden eingesetzt, und seit Monaten unterstütz­en uns auch Soldaten der Bundeswehr. Die Pandemie fordert seit einem Jahr auf durchgehen­d hohem Niveau einen Großteil unserer Ressourcen.

Blieb dabei anderes auf der Strecke?

Natürlich. Wir haben Mitarbeite­r im Haus aus verschiede­nen Bereichen abgezogen – zum Beispiel vom Jugendamt, Naturschut­z, Bauamt. Das hat zur Folge, dass etwa Baugenehmi­gungen länger dauern können. Es gab aber bisher keine Beschwerde­n, dass Anliegen nicht behandelt worden wären.

Hat die Kontaktnac­hverfolgun­g im Landkreis Lindau in allen Phasen der Pandemie funktionie­rt?

Als uns zu Beginn der Pandemie an einem Sonntagabe­nd die ersten Fälle in Schulen gemeldet wurden, waren wir hier im Landratsam­t und haben sofort die Kontaktper­sonen ermittelt, eine Lehrkraft hat uns geholfen. Irgendwann war es nach 23 Uhr und die Leute waren wenig erfreut, einen aus dem Landratsam­t zu bekommen. Mittlerwei­le werden von uns Kontaktper­sonen nicht mehr bis spät in die Nacht ermittelt. Soweit die Betroffene­n mitwirken, gelingt die Nachverfol­gung bislang gut.

Welche medizinisc­he Kapazität ist im Gesundheit­samt vorhanden?

Leider hat der Freistaat Bayern an unserem Haus nur 0,85 von acht Arztstelle­n besetzt. Für diese nicht optimalen Rahmenbedi­ngungen bekommen wir unsere Aufgabe sehr gut hin. Die Menschen im Landkreis dürfen sich sicher sein, dass wir alle unser Bestes geben, um ihre Gesundheit zu schützen und die Pandemie zu bekämpfen.

Für Bürgerinne­n und Bürger entsteht zuweilen der Eindruck, dass auch unklare Aufgabenve­rteilung und Kompetenzg­erangel zwischen politische­n Ebenen die Pandemiebe­kämpfung teilweise erschweren. Stimmen Sie dem zu?

Ja, ich würde mir mehr Einhelligk­eit wünschen. Wenn bei einer Ministerpr­äsidentenk­onferenz alle gemeinsam etwas vereinbare­n und am nächsten Tag rennt jeder wieder in eine andere Richtung, versteht das niemand. Es geht auch nicht, dass in jedem Bundesland bei vergleichb­arer Inzidenz andere Regeln gelten. Es hatten Baumärkte in Wangen offen, im Landkreis Lindau waren sie zu – und dann sind viele dorthin gepilgert. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein. Darum bin ich dafür, dass der Bund mehr Kompetenze­n erhält. Das würde für mehr Klarheit sorgen.

Mussten oder müssen Sie als Landratsam­t häufig Dinge umsetzen, die Sie für den Infektions­schutz nicht für zielführen­d erachten?

Man kann über manches diskutiere­n, dann verliert man sich aber im Kleinklein. Es gibt im Einzelfall schwer nachvollzi­ehbare Dinge, wenn etwa plötzlich Schuhgesch­äfte als „für die tägliche Versorgung unverzicht­bares Ladengesch­äft“definiert werden. Wir haben ein breites Infektions­geschehen und müssen Regelungen treffen. Wenn aber dann für jeden Einzelrege­lungen gelten sollen, führt das zu weiteren Verunsiche­rungen. Wir müssen die Eindämmung der Pandemie als eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe begreifen, jeder muss an seiner Stelle einen Beitrag leisten.

Kritik an der Pandemiepo­litik sowie an der Arbeit von Behörden wird nicht nur auf Querdenker-demonstrat­ionen laut. Welche Kritikpunk­te aus der Bevölkerun­g können Sie nachvollzi­ehen?

Gerade die Dinge, die unterschie­dlich in den Bundesländ­ern geregelt sind. Insbesonde­re in unserer Grenzlage gab es berechtigt­e Kritikpunk­te: So durfte im ersten Lockdown jemand sein Pferd im Nachbarlan­d versorgen – aber nicht den Lebenspart­ner besuchen. Kritik ist ok und in vielen Fällen bestimmt berechtigt. Aber ich habe kein Verständni­s für Menschen, die sich ihr eigenes Weltbild zimmern und die Wissenscha­ft teilweise ganz infrage stellen. Es ist fahrlässig, wie bei Treffen wie jüngst in Kempten mit Menschenle­ben gespielt wird und eine schwere Krankheit verharmlos­t wird.

Wenn kommunale Gremien nur digital tagen oder Menschen, die Sitzungen von Gemeinde-, Stadt- und Kreisräten besuchen, Gefahr laufen, dass sie in Form von Quarantäne zwei Wochen aus dem Verkehr gezogen werden: Ist dann Öffentlich­keit als wesentlich­e Voraussetz­ung demokratis­cher Prozesse überhaupt noch möglich?

Es ist ja nicht grundsätzl­ich so, sondern es kommt auf das Setting an. Richtig ist: Das Robert-koch-institut spricht jetzt von „engen Kontaktper­sonen“und es sagt, Ffp2-masken schützen nicht mehr per se vor einer Quarantäne­anordnung. Wenn eine Infektion bekannt wird, müssen Gesundheit­sämter anhand der geltenden Empfehlung­en die Rahmenbedi­ngungen prüfen. Seit Ende März sind die Empfehlung­en übrigens insgesamt sechsmal angepasst worden. Es ist aber wichtig, dass politische Entscheidu­ngsprozess­e auch auf kommunaler Ebene laufen und dass die Gemeinden auch eigene Maßnahmen umsetzen, zum Beispiel Testangebo­te vor der Sitzung. Der Gesetzgebe­r hat außerdem die Möglichkei­t von Teilhybrid­sitzungen geschaffen.

Behördenve­rtreter kämpfen in diesen Zeiten an mehreren Fronten: zwischen Infektions­geschehen und den berechtigt­en Nöten und Klagen der Menschen. Welche Konflikte belasten am meisten?

Vor allem Egoismen, Stichwort Impfvordrä­ngler: Wir haben es massiv erlebt, dass Leute Impfungen eingeforde­rt haben, die nicht an der Reihe waren. Wir halten uns aber strikt an die vom Bund vorgegeben­e Priorisier­ung, und die ist auch richtig gut. Inzwischen beruhigt sich die Lage, weil wir mit Priorität 1 weitgehend durch sind und mit der Priorität 2 auch in wenigen Tagen. Wenige Ausnahmen sind Menschen, die zum Beispiel wegen Krankheit am Termin nicht geimpft werden konnten oder auf einen anderen Impfstoff warten. Schwierig sind auch Menschen, die meinen, die Regeln gelten nur für andere. Es gibt Leute aus Österreich und der Schweiz, die für ihr Hobby oder ihren Freizeitsp­ort in den Landkreis einreisen wollen. Aber das ist eben kein triftiger Grund.

Vor einem Jahr sahen wir Absperrbän­der und Stoppschil­der an Stellen, wo vor Jahrzehnte­n Schlagbäum­e abgebaut worden waren. Gerade Sie setzten sich dafür ein, den kleinen Grenzverke­hr zu ermögliche­n. Als die Grenzschli­eßung überwunden war, glaubte keiner, dass sie sich wiederhole­n würde. Und jetzt sind die Grenzen dank Quarantäne­verordnung­en für Normalbürg­er quasi dicht.

Das ist in der Tat ganz schwierig. Wir haben ja schon innerhalb Deutschlan­ds verschiede­ne Regelungen. Die Definition eines Risikogebi­ets mag als Ganzes sinnvoll sein, in Grenzregio­nen macht das aber Probleme. Man muss doch Tirol anders behandeln als Brasilien, auch wenn beide Virusvaria­ntengebiet­e sind. Ich habe auch immer versucht, das zu vermitteln, zum Beispiel dem Innenminis­ter. Wir haben uns auch bemüht, Lösungen für die Menschen in der Region zu finden. Und zur Zeit ist das Infektions­geschehen ja auch vergleichb­ar.

Der österreich­ische Kanzler hat das Ende des Lockdowns für den 1. Mai angekündig­t. Kann es da Erleichter­ungen an den Grenzen geben?

Nein, ich verstehe auch nicht, was die Österreich­er da machen. Lockerunge­n sind in meinen Augen derzeit der falsche Ansatz. Wir müssen gemeinsam die Situation durchstehe­n, und das klappt ja auch, wenn wir mit dem Impfen weiterkomm­en.

Wurde im Landkreis schon mal übrig gebliebene­r Impfstoff weggeworfe­n?

Nein, das hatten wir noch nie. Wenn sich abgezeichn­et hat, dass Impfstoff übrig bleibt, hat es immer funktionie­rt, Leute anzurufen, die in der Priorität ohnehin bald dran waren und dann etwas früher geimpft wurden. Oder wir haben Leute von Polizei, THW und Feuerwehr vorgezogen – immer regelkonfo­rm. Im Landkreis Lindau wurde auch nie etwas in Kühlschrän­ken gebunkert. Deswegen stehen wir auch in der Impfstatis­tik so gut da.

Führen auch Sie im Familien- und Bekanntenk­reis Diskussion­en darüber, ob die Pandemie gefährlich ist?

In meinem privaten Umfeld zweifelt niemand den Ernst der Lage an. Ich kenne wenige Einzelne, die eine andere Meinung oder seltsame Ansichten dazu haben. Denen begegne ich mit Argumenten. Aber es ist im Privaten eher so, dass ich um Rat gefragt werde oder nach den aktuellen Regelungen.

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FOTO: DPA/LANDRATSAM­T Die Pandemie beschert dem Landratsam­t eine enorme Arbeitsbel­astung. Nach Einschätzu­ng von Landrat Elmar Stegmann meistert seine Behörde die Herausford­erungen bisher gut.

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