Mit Drogenersatz aus tödlichem Kreislauf
Wie Substitution die „Jagd nach dem Stoff“verhindern kann – Im Landkreis Ravensburg gab es 2020 acht Drogentote
- Auch abseits der Großstädte zerstören Drogen Leben. Acht Menschen sind im vergangenen Jahr im Landkreis Ravensburg durch den Konsum harter Drogen gestorben. Darunter auch mindestens ein Leutkircher.
Ein wichtiger Weg, die Gefahr von Todesfällen zu senken, ist die Substitution. Für viele Opioidabhängige – meist geht es um Heroin – ist die Drogenersatztherapie der erste Schritt in ein besseres Leben: weg von der Straße, raus aus dem Kreislauf von Beschaffung und Sucht, rein in einen halbwegs stabilen Alltag. Allerdings hakt es an einer flächendeckenden Versorgung durch Ärzte.
Zu denjenigen, die über Jahre substituiert wurden, gehört der Sohn von Beate Stör. „Mir als Mutter ging es in dieser Zeit sehr gut“, sagt die Leutkircherin. Die gefährliche „Jagd nach dem Stoff“und die damit verbundenen Sorgen fallen in dieser Zeit weg. Normalerweise befindet sich ein Drogenabhängiger immer in der Illegalität. „Wenn er sich seinen Stoff besorgt, hat er sich schon strafbar gemacht“, erklärt sie.
Außerdem bestehe immer die Gefahr, dass der besorgte Stoff beispielsweise mit gefährlichen Substanzen gestreckt ist, erklärt Stör. Durch die Substitution gebe es dagegen die Möglichkeit, mehr Lebensqualität zurückzubekommen, wieder soziale Kontakte aufzubauen und einer geregelten Arbeit nachzugehen.
Die Leutkircher Medizinerin Brigitte Schuler-kuon gehört bereits seit 1996 zu den wenigen Ärzten, die im Landkreis Ravensburg eine solche Therapie anbieten. Während es früher als der Königsweg galt, dass
Patienten dauerhaft komplett abstinent leben, spiele heute die Dauersubstitution eine sehr wichtige Rolle.
Immer wieder zeige sich, dass das auch gut funktioniert, erklärt Schuler-kuon. Sie betreue Patienten, die seit mehr als zehn Jahren zu ihr kommen und es durch die Substitution und begleitende Therapien geschafft haben, ein normales Leben mit Familie, Beruf und ohne Schulden aufzubauen.
Dass ein niederschwelliger Zugang der Suchtkranken zur Substitution unter ärztlicher Aufsicht nicht nur die Gefahr von Todesfällen senkt, sondern den Abhängigen auch die Chance zum Ausstieg aus der Illegalität und der Beschaffungskriminalität bietet, bekräftigt auch eine Sprecherin des Polizeipräsidiums Ravensburg. Mit acht Drogentoten 2020 rangiert der Landkreis Ravensburg trotz seiner ländlichen Struktur relativ weit oben in Baden-württemberg.
Mehr Personen, die im vergangenen Jahr an den Folgen ihres Drogenkonsums starben, wurden nur in der Landeshauptstadt Stuttgart (15 Verstorbene), im Stadtkreis Freiburg mit (zehn) sowie im Kreis Ludwigsburg (neun) verzeichnet. Insgesamt starben 2020 so 158 Menschen in Badenwürttemberg an den Drogen.
Laut Polizei ist dabei nach wie vor der Konsum von Heroin die häufigste Ursache für tödlichen Drogenkonsum. Das aus Schlafmohn hergestellte Opioid zählt aufgrund der immensen psychischen Wirkung zu den Substanzen mit dem höchsten Abhängigkeitspotenzial überhaupt. In 17 Fällen war eine Überdosis Heroin Todesursache. Eine besonders gefährliche und unkalkulierbare Wirkung entstehe beim Mischkonsum, wenn Heroin mit anderen Drogen, Medikamenten oder Alkohol konsumiert wird, erklärt die Polizei. So führte in 25 Fällen der Mischkonsum von Heroin zum Tode.
Zahlen, die verdeutlichen, dass die Substitution nicht nur eine wichtige, sondern lebenswichtige Behandlung ist. Mit der Kampagne „100 000 Substituierte bis 2022“wollen mehrere Verbände mit Unterstützung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung gemeinsam dazu beitragen, die Substitution zu stärken. Die Initiative möchte unter anderem mit dem ersten „Aktionstag Substitution“am Mittwoch, 5. Mai, das Thema Drogensubstitution in den Fokus rücken. Ziel ist es, dass bis 2022 mindestens 60 Prozent der Opioidabhängigen behandelt werden. Knapp die Hälfte der etwa 165 000 Opioidabhängigen in Deutschland erhält seit einigen Jahren eine Substitutionsbehandlung. In vielen anderen europäischen Ländern wie in Frankreich, Spanien und Norwegen ist die Behandlungsquote allerdings höher als in Deutschland. „Wir brauchen zeitnah mehr engagierte Ärztinnen und Ärzte, die substituieren. Daran arbeiten wir gemeinsam mit voller Kraft“, erklärte die Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Daniela Ludwig, Ende März.
Mehr engagierte Kollegen in diesem Bereich würde sich auch Schuler-kuon wünschen. Sie betreut in ihrer Leutkircher Praxis aktuell rund 35 Substitutionspatienten. Der Einzugsbereich reiche dabei bis nach Biberach. Das so wenig Ärzte diese Therapie anbieten, könnte unter anderem an der zeitintensiven Weiterbildung liegen, vermutet sie. Wahrscheinlich aber auch daran, dass viele Ärzte Angst haben, dass dadurch ein anderes Klientel in die Praxis kommt, dass die anderen Patienten verschreckt, so Schuler-kuon. Der Trend hierzulande zeigt dementsprechend in die falsche Richtung: Laut der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-württemberg (KVBW) ist die Zahl der substituierenden Ärzte innerhalb von knapp vier Jahren von 394 auf 360 gefallen.
Zumindest im Landkreis Ravensburg ist die Lage noch relativ stabil. Laut KVBW haben im letzten Quartal 2020 sieben Ärzte insgesamt 333 Patienten mit mindestens einer Substitution behandelt. Neben einer weiteren Kollegin aus Wangen, die wie Schuler-kuon sehr aktiv in diesem Bereich ist, konzentriert sich das vor allem auf die Schwerpunktpraxis in Ravensburg. Aktuell behandelt Internist Frank Matschinski dort 240 Substitutionspatienten und -patientinnen.
Schuler-kuon berichtet, dass die Befürchtung, andere Patienten einer Hausarztpraxis dadurch zu verschrecken, unbegründet sei. Die Leute, die zu ihr zur Substitution kommen, würden ganz normal im Praxisbetrieb mitlaufen. Sie betont, dass genau das – sich an die Termine und Vorgaben zu halten und zusammen mit den anderen Patienten ganz normal im Wartezimmer zu sitzen – für diese ein wichtiger Schritt auf dem Weg zurück in die Normalität ist. Diese Patienten wollen in der Regel schließlich wirklich etwas in ihrem Leben ändern.
Der Sohn von Beate Stör hat den Kampf gegen die Sucht im letzten Jahr verloren. Als Leiterin des Leutkircher Elternkreises Suchtgefährdeter und Suchtkranker setzt sie sich trotzdem weiterhin ein. Unter anderem dafür, dass mehr Ärzte substituieren. Der Elternkreis besteht inzwischen seit mehr als 20 Jahren.