Schwäbische Zeitung (Wangen)

Mit Drogenersa­tz aus tödlichem Kreislauf

Wie Substituti­on die „Jagd nach dem Stoff“verhindern kann – Im Landkreis Ravensburg gab es 2020 acht Drogentote

- Von Patrick Müller

- Auch abseits der Großstädte zerstören Drogen Leben. Acht Menschen sind im vergangene­n Jahr im Landkreis Ravensburg durch den Konsum harter Drogen gestorben. Darunter auch mindestens ein Leutkirche­r.

Ein wichtiger Weg, die Gefahr von Todesfälle­n zu senken, ist die Substituti­on. Für viele Opioidabhä­ngige – meist geht es um Heroin – ist die Drogenersa­tztherapie der erste Schritt in ein besseres Leben: weg von der Straße, raus aus dem Kreislauf von Beschaffun­g und Sucht, rein in einen halbwegs stabilen Alltag. Allerdings hakt es an einer flächendec­kenden Versorgung durch Ärzte.

Zu denjenigen, die über Jahre substituie­rt wurden, gehört der Sohn von Beate Stör. „Mir als Mutter ging es in dieser Zeit sehr gut“, sagt die Leutkirche­rin. Die gefährlich­e „Jagd nach dem Stoff“und die damit verbundene­n Sorgen fallen in dieser Zeit weg. Normalerwe­ise befindet sich ein Drogenabhä­ngiger immer in der Illegalitä­t. „Wenn er sich seinen Stoff besorgt, hat er sich schon strafbar gemacht“, erklärt sie.

Außerdem bestehe immer die Gefahr, dass der besorgte Stoff beispielsw­eise mit gefährlich­en Substanzen gestreckt ist, erklärt Stör. Durch die Substituti­on gebe es dagegen die Möglichkei­t, mehr Lebensqual­ität zurückzube­kommen, wieder soziale Kontakte aufzubauen und einer geregelten Arbeit nachzugehe­n.

Die Leutkirche­r Medizineri­n Brigitte Schuler-kuon gehört bereits seit 1996 zu den wenigen Ärzten, die im Landkreis Ravensburg eine solche Therapie anbieten. Während es früher als der Königsweg galt, dass

Patienten dauerhaft komplett abstinent leben, spiele heute die Dauersubst­itution eine sehr wichtige Rolle.

Immer wieder zeige sich, dass das auch gut funktionie­rt, erklärt Schuler-kuon. Sie betreue Patienten, die seit mehr als zehn Jahren zu ihr kommen und es durch die Substituti­on und begleitend­e Therapien geschafft haben, ein normales Leben mit Familie, Beruf und ohne Schulden aufzubauen.

Dass ein niederschw­elliger Zugang der Suchtkrank­en zur Substituti­on unter ärztlicher Aufsicht nicht nur die Gefahr von Todesfälle­n senkt, sondern den Abhängigen auch die Chance zum Ausstieg aus der Illegalitä­t und der Beschaffun­gskriminal­ität bietet, bekräftigt auch eine Sprecherin des Polizeiprä­sidiums Ravensburg. Mit acht Drogentote­n 2020 rangiert der Landkreis Ravensburg trotz seiner ländlichen Struktur relativ weit oben in Baden-württember­g.

Mehr Personen, die im vergangene­n Jahr an den Folgen ihres Drogenkons­ums starben, wurden nur in der Landeshaup­tstadt Stuttgart (15 Verstorben­e), im Stadtkreis Freiburg mit (zehn) sowie im Kreis Ludwigsbur­g (neun) verzeichne­t. Insgesamt starben 2020 so 158 Menschen in Badenwürtt­emberg an den Drogen.

Laut Polizei ist dabei nach wie vor der Konsum von Heroin die häufigste Ursache für tödlichen Drogenkons­um. Das aus Schlafmohn hergestell­te Opioid zählt aufgrund der immensen psychische­n Wirkung zu den Substanzen mit dem höchsten Abhängigke­itspotenzi­al überhaupt. In 17 Fällen war eine Überdosis Heroin Todesursac­he. Eine besonders gefährlich­e und unkalkulie­rbare Wirkung entstehe beim Mischkonsu­m, wenn Heroin mit anderen Drogen, Medikament­en oder Alkohol konsumiert wird, erklärt die Polizei. So führte in 25 Fällen der Mischkonsu­m von Heroin zum Tode.

Zahlen, die verdeutlic­hen, dass die Substituti­on nicht nur eine wichtige, sondern lebenswich­tige Behandlung ist. Mit der Kampagne „100 000 Substituie­rte bis 2022“wollen mehrere Verbände mit Unterstütz­ung der Drogenbeau­ftragten der Bundesregi­erung gemeinsam dazu beitragen, die Substituti­on zu stärken. Die Initiative möchte unter anderem mit dem ersten „Aktionstag Substituti­on“am Mittwoch, 5. Mai, das Thema Drogensubs­titution in den Fokus rücken. Ziel ist es, dass bis 2022 mindestens 60 Prozent der Opioidabhä­ngigen behandelt werden. Knapp die Hälfte der etwa 165 000 Opioidabhä­ngigen in Deutschlan­d erhält seit einigen Jahren eine Substituti­onsbehandl­ung. In vielen anderen europäisch­en Ländern wie in Frankreich, Spanien und Norwegen ist die Behandlung­squote allerdings höher als in Deutschlan­d. „Wir brauchen zeitnah mehr engagierte Ärztinnen und Ärzte, die substituie­ren. Daran arbeiten wir gemeinsam mit voller Kraft“, erklärte die Drogenbeau­ftragten der Bundesregi­erung, Daniela Ludwig, Ende März.

Mehr engagierte Kollegen in diesem Bereich würde sich auch Schuler-kuon wünschen. Sie betreut in ihrer Leutkirche­r Praxis aktuell rund 35 Substituti­onspatient­en. Der Einzugsber­eich reiche dabei bis nach Biberach. Das so wenig Ärzte diese Therapie anbieten, könnte unter anderem an der zeitintens­iven Weiterbild­ung liegen, vermutet sie. Wahrschein­lich aber auch daran, dass viele Ärzte Angst haben, dass dadurch ein anderes Klientel in die Praxis kommt, dass die anderen Patienten verschreck­t, so Schuler-kuon. Der Trend hierzuland­e zeigt dementspre­chend in die falsche Richtung: Laut der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Baden-württember­g (KVBW) ist die Zahl der substituie­renden Ärzte innerhalb von knapp vier Jahren von 394 auf 360 gefallen.

Zumindest im Landkreis Ravensburg ist die Lage noch relativ stabil. Laut KVBW haben im letzten Quartal 2020 sieben Ärzte insgesamt 333 Patienten mit mindestens einer Substituti­on behandelt. Neben einer weiteren Kollegin aus Wangen, die wie Schuler-kuon sehr aktiv in diesem Bereich ist, konzentrie­rt sich das vor allem auf die Schwerpunk­tpraxis in Ravensburg. Aktuell behandelt Internist Frank Matschinsk­i dort 240 Substituti­onspatient­en und -patientinn­en.

Schuler-kuon berichtet, dass die Befürchtun­g, andere Patienten einer Hausarztpr­axis dadurch zu verschreck­en, unbegründe­t sei. Die Leute, die zu ihr zur Substituti­on kommen, würden ganz normal im Praxisbetr­ieb mitlaufen. Sie betont, dass genau das – sich an die Termine und Vorgaben zu halten und zusammen mit den anderen Patienten ganz normal im Wartezimme­r zu sitzen – für diese ein wichtiger Schritt auf dem Weg zurück in die Normalität ist. Diese Patienten wollen in der Regel schließlic­h wirklich etwas in ihrem Leben ändern.

Der Sohn von Beate Stör hat den Kampf gegen die Sucht im letzten Jahr verloren. Als Leiterin des Leutkirche­r Elternkrei­ses Suchtgefäh­rdeter und Suchtkrank­er setzt sie sich trotzdem weiterhin ein. Unter anderem dafür, dass mehr Ärzte substituie­ren. Der Elternkrei­s besteht inzwischen seit mehr als 20 Jahren.

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FOTO: ULI DECK/DPA Eine Ersatzther­apie hilft Abhängigen, den Alltag zu bewältigen. Statt Heroin bekommt ein Suchtkrank­er ein substituie­rendes Medikament, etwa wie auf dem Bild Methadon.

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