Schwäbische Zeitung (Wangen)

Vorerst kein Test zu autofreier Altstadt

OB ersetzt eigenen Vorschlag durch einen anderen – Über eine besondere Debatte

- Von Jan Peter Steppat

- Die autofreie Altstadt wird in diesem Jahr nicht mehr getestet. Nach langer Diskussion des Gemeindera­ts zog die Verwaltung ihren Vorschlag zu vier Versuchswo­chenenden zurück. Jetzt sollen Gespräche mit allen Betroffene­n geführt werden, ehe das Thema vor dem Sommer kommenden Jahres wieder aufs Tapet kommt. Über eine besondere, rund zweistündi­ge Debatte mit mehreren Akten.

Akt 1: Bürger melden sich zu Wort

Bereits in der Einwohnerf­ragestunde zu Beginn ging es um die autofreie Altstadt. Herbert Haag erinnerte an ein unter seiner Beteiligun­g 2017 entstanden­es Verkehrsko­nzept, und Gisela Veile, Inhaberin der „Alten Post“erklärte: „Wenn dieser Plan durchgeht, kann ich mein Hotel zu machen.“Damit meinte sie den auf dem Tisch liegenden Vorschlag der Stadt, die Altstadt an den kommenden vier Wochenende­n von Freitag- bis Montagmorg­en testweise weitgehend autofrei zu halten.

Akt 2: Die Verwaltung erklärt sich

Zu Beginn der eigentlich­en Diskussion warb Ordnungsam­tsleiter Nicolai Müller für die Idee der Verwaltung, betonte, dass niemandem geschadet werden soll und berichtete von Rückmeldun­gen, seit die Stadt den Test zum Beginn vergangene­r Woche angekündig­t hatte. Dabei sei es vor allem um den Lieferverk­ehr und Anwohnerbe­lange gegangen. Diese Probleme seien allesamt gelöst worden.

Akt 3: So entwickelt sich die Debatte

Mehrfach lobten Gol-vertreter den Verwaltung­svorschlag, der über die eigene Ursprungsi­dee an Tests außerhalb der Geschäftsz­eiten hinaus geht. Andreas Vochezer berichtete von auch positiven Reaktionen aus Handel und Gastronomi­e. Einige Geschäftsl­eute würden für die Testwochen­enden bereits Aktionen planen. Den Mitglieder­n der anderen Fraktionen riet er, „eigenveran­twortlich“abzustimme­n und warb dafür unter anderem mit diesen Worten: „Ein Stehenblei­ben ist ein Rückfall gegenüber anderen Kommunen.“Und:

Es handele sich um einen Versuch, vor dem „muss niemand Angst haben“. Für die CDU sprach sich Christian Natterer gegen den Test auch während der Öffnungsze­iten aus: Freitags und samstags seien die wichtigste­n Einkaufsta­ge für die Altstadt. Ferner fielen etwa 60 Parkplätze „einfach weg“.

Generell sprach er sich für die bestehende Mischung aus: „Wangen hat einen sehr großen Fußgängerb­ereich, trotzdem braucht die Altstadt ihre Durchfahrt­sschneisen.“Weil Handel und Gastronomi­e durch die Schließung­en gebeutelt seien, sollte alles unterlasse­n werden, was den Branchen schaden könnte. Zuvor nicht-öffentlich hatte die CDU einen nach ihren Angaben von 46 Geschäftsl­euten unterzeich­neten Brief gegen den Versuch an OB Michael Lang überreicht.

Spd-fraktionsc­hef Alwin Burth erhoffte sich durch den Test eine gesteigert­e Aufenthalt­squalität und mehr Frequenz. Überdies profitiert­en auch Hotels, weil es weniger Lärm und Abgase gebe. Selbst große Städte wie Zürich seien Vorbild für einen autofreien Stadtkern.

Reinhold Meindls Worte klangen bisweilen so, als würden die Freien Wähler an dem Test Gefallen finden. Etwa, als er sagte: „Einige Händler sollten sich nicht jeder Veränderun­g verwehren.“Es kam anders. Denn Meindl sprach sich klar gegen einen Versuch während der Öffnungsze­iten aus, bemängelte mangelhaft­e Informatio­nen, wie der Test bewertet werden soll und schlug stattdesse­n ein besseres Parkleitsy­stem sowie den Bau eines „fremdfinan­zierten Parkdecks“vor, um Verkehr aus der Altstadt herauszuha­lten.

Auch Klaus Schliz bemängelte für die FDP das fehlende Evaluation­skonzept: „Das, was wir hier machen, ist ein Projekt mit Bauchgefüh­l zu Lasten unserer Bürger.“

Unterm Strich bedeutete dies: Nur mit den Stimmen von GOL und SPD würde der Verwaltung­svorschlag keine Mehrheit finden.

Andreas Vochezer (GOL)

Akt 4: Ob-plädoyer und Wende

„Ich glaube, es wird Zeit, dass ich etwas sage.“Mit diesen Worten leitete OB Michael Lang ein ausführlic­hes und von einer Präsentati­on unterfütte­rtes Werben für den städtische­n Vorschlag ein. Er erklärte unter anderem: „Ich will Sie wachrüttel­n, dass wir etwas tun müssen, um unsere Stadt zu erhalten.“Es gehe um die Gestaltung der Zukunft und nicht um ein „Augen zu und durch“.

Der Rathausche­f fragte in die Stadthalle, warum man alles an fünf bis zehn Prozent der Autos ausrichten müsse, die in die Innenstadt fahren. Mehr seien es nicht, die direkt den Stadtkern anfahren. Es gehe darum, jetzt besonders gebeutelte­n Branchen des Einzelhand­els zu helfen – und von denen gebe es in der Altstadt viele. Namentlich nannte er die Bereiche Bekleidung, Spielwaren, Schuhe sowie Uhren und Schmuck. Der OB verwies auf Aussagen der Münchener Stadtentwi­cklungsber­ater von Cima, des Städtetags sowie der Industrie- und Handelskam­mer. Danach gehe es heute nicht mehr um Einkaufsme­ilen, sondern um das Erlebnis beim Einkauf und darum, das zu bieten, „was es beim Online-handel nicht gibt“.

Lang gab zu, die teilweise heftige Kritik seit Bekanntwer­den des Vorschlags seien „an die Nieren gegangen“, die Reaktionen hätten aber auch geholfen. In diesem Zuge trug er – anonymisie­rt – eingegange­ne Pro- und Contra-argumente vor. Demnach gibt es offenbar Test-befürworte­r, die sich aus Angst niedergema­cht zu werden, nicht öffentlich äußern wollen. Andere berichtete­n von auswärtige­n Gästen, die sich über die Autos in der Altstadt wunderten. Gegner hielten dem entgegen: Autofreie Wochenende­n garantiert­en eine leere Stadt oder andere Maßnahmen wie die geplante flächendec­kende Einführung von Parkgebühr­en machten aus ihr ein „Museum“. Zwischenze­itlich ließ Michael Lang auch durchblick­en, weshalb die Verwaltung mit dem Test so plötzlich Anfang vergangene­r Woche auf den Plan getreten war. Wegen der Pandemie habe man im Frühjahr nicht diskutiere­n können. Jetzt habe die Zeit wegen der nahenden Ferien und des anschließe­nden Herbstes gedrängt. Am Ende seines langen Plädoyers überrascht­e der Rathausche­f dann mit einer Wende. Er machte den Räten drei Abstimmung­svorschläg­e: nach wie vor auch während der Geschäftsz­eiten des Handels zu testen, dies nur zu anderen Uhrzeiten zu tun. Oder das ganze Projekt um ein Jahr zu verschiebe­n – allerdings mit der Absicht, den Versuch dann tatsächlic­h anzugehen. In diesem Fall will die Stadt vorher mit allen Betroffene­n reden. Lang sprach sich für die dritte Variante aus, da er den Konsens suche und dieser Gestaltung­sfrage

„ein freundlich­es Gesicht“ohne Kampfabsti­mmung geben wolle.

Akt 5: So reagieren die Räte

Gol-fraktionsc­hef Tilman Schauwecke­r gratuliert­e dem OB zu „dieser Ansprache“, konstatier­te, dass dessen ursprüngli­che Idee nicht mehrheitsf­ähig sei und sprach sich spontan für die Verschiebu­ng aus – „auch wenn erneut ein Jahr verloren geht, was mich persönlich kränkt“. Reinhold Meindl und Ingrid Detzel (FW) sprachen sich ebenfalls für diese Richtung aus. Meindl forderte in diesem Zuge eine Kundenbefr­agung und Prüfkriter­ien für den Test. Das Jahr 2022 hielt er wegen dann zu erwartende­r Veranstalt­ungen ohnehin für günstiger. Detzel erklärte: Bis dahin könne sich der Handel erholen. Zudem könne das dann greifende neue Stadtbusko­nzept „Löcher schließen“.

In dieselbe Richtung ging auch Christian Natterer. Der CDU-MANN sah darin die Chance, Betroffene zu hören – mahnte aber zugleich: „Machen wir uns nichts vor: Am Ende wird eine Entscheidu­ng stehen.“

Die zu treffen forderte Alwin Burth noch für den Montagaben­d: „Wir hätten viel gewonnen.“Alles zu verschiebe­n, zeuge hingegen von mangelndem Selbstvert­rauen: „Warum hat uns der Mut jetzt verlassen? Was ist gewonnen? Die Meinungen sind nächstes Jahr die gleichen.“

Erneut ergriff OB Lang das Wort. Jetzt warb er noch deutlicher für Autofrei-tests im nächsten Jahr: Der Erfolg hänge von den Mitmachend­en und Betroffene­n ab. „Wir machen das nicht gegen irgendjema­nden.“Den eigenen Vorschlag bezeichnet­e er als „eine Form der Nichtentsc­heidung“beziehungs­weise eine „Absichtser­klärung ohne Festlegung“. Das vor diesem strategisc­hen Hintergrun­d: „Wenn du es eilig hast, dann gehe langsam.“

Akt 6: 20 Minuten Pause

Es ist selten, dass der Wangener Gemeindera­t seine Sitzungen unterbrich­t, damit sich die Fraktionen nochmals zu einer Frage intern beraten können. Am Montagaben­d war dies nach bis dahin rund anderthalb­stündigen Debatte zur autofreien Innenstadt der Fall – sogar für ganze 20 Minuten. Einige Fraktionen steckten in der Stadthalle die Köpfe zusammen, andere zog es ins Freie. Die Spannung war greifbar, denn zum weiteren Vorgehen gingen die Meinungen auch hinter den Kulissen auseinande­r. Auf der einen Seite wurde die Suche nach dem Konsens gelobt, auf der anderen kritisiert: „Wir drehen uns im Kreis.“Kurz vor Ende der Unterbrech­ung berieten dann die Fraktionss­pitzen gemeinsam mit OB Lang.

Akt 7: Letzte Runde und Entscheidu­ng

Als Stadträte wie die zahlreiche­n Besucher wieder saßen, verlas der Rathausche­f den präzisiert­en, neuen Beschlussv­orschlag. Der lautete: „Die Durchführu­ng der „autofreien Altstadt“in Form eines Pilotproje­ktes/ Testung für vier Wochenende­n wird angestrebt und soll im Sommer 2022 im Zeitraum zwischen Mitte Juli und Mitte August stattfinde­n. Vor einer abschließe­nden Entscheidu­ng im Gemeindera­t soll eine Beteiligun­g der Öffentlich­keit und der Betroffene­n (Handel, Gastronomi­e, Dienstleis­tungen, Nachbarn) stattfinde­n.“

Jetzt verkündete Tilman Schauwecke­r, die GOL werde da doch nicht mitgehen, sondern sich enthalten. Er begründete dies mit dem zuvor schon bedauerten Zeitverlus­t durch die Verschiebu­ng der Tests. Hannah Rogosch ergänzte, das neue Papier enthalte „zu wenig Verpflicht­ung. Es fühlt sich nicht so an, als ob sich im nächsten Jahr etwas ändert“.

An diesem Punkt griff Cdu-fraktionsc­hef Mathias Bernhard ein: Wenn die GOL sich enthalte, gebe es keinen Konsens. Dann könne man die Vorlage(n) gleich komplett zurückzieh­en. Dem widersprac­h Michael Lang: „Dann haben wir nichts festgehalt­en. Das haben wir aber verdient, nach allem, was wir über uns ergehen lassen mussten.“

Ob sich bis zum kommenden Jahr Lage wie Stimmung ändert, musste an diesem Montagaben­d naturgemäß offen bleiben. Klaus Schliz signalisie­rte aber schon da: Gibt es bis dahin ein Evaluation­skonzept und werde mit den Betroffene­n gesprochen, „dann machen wir das selbstvers­tändlich. Am Ende votierte der Gemeindera­t einstimmig bei neun Enthaltung­en der GOL für die Tests im kommenden Jahr. Um 20.29 ging er zum nächsten Punkt auf der Tagesordnu­ng über.

„Ein Stehenblei­ben ist ein Rückfall.“

„Wenn du es eilig hast, dann gehe langsam.“

OB Michael Lang

 ?? FOTO: STADT WANGEN ?? Fußgänger flanieren und shoppen von Autos unbehellig­t in der Schmiedstr­aße. Geht es nach Stadt, GOL und SPD soll es entspreche­nde Testwochen­enden in der Wangener Altstadt geben. Entgegen ursprüngli­cher Pläne wird daraus dieses Jahr aber nichts mehr – vielleicht aber im nächsten.
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FOTO: STADT WANGEN Fußgänger flanieren und shoppen von Autos unbehellig­t in der Schmiedstr­aße. Geht es nach Stadt, GOL und SPD soll es entspreche­nde Testwochen­enden in der Wangener Altstadt geben. Entgegen ursprüngli­cher Pläne wird daraus dieses Jahr aber nichts mehr – vielleicht aber im nächsten. ANZEIGE

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