Vorerst kein Test zu autofreier Altstadt
OB ersetzt eigenen Vorschlag durch einen anderen – Über eine besondere Debatte
- Die autofreie Altstadt wird in diesem Jahr nicht mehr getestet. Nach langer Diskussion des Gemeinderats zog die Verwaltung ihren Vorschlag zu vier Versuchswochenenden zurück. Jetzt sollen Gespräche mit allen Betroffenen geführt werden, ehe das Thema vor dem Sommer kommenden Jahres wieder aufs Tapet kommt. Über eine besondere, rund zweistündige Debatte mit mehreren Akten.
Akt 1: Bürger melden sich zu Wort
Bereits in der Einwohnerfragestunde zu Beginn ging es um die autofreie Altstadt. Herbert Haag erinnerte an ein unter seiner Beteiligung 2017 entstandenes Verkehrskonzept, und Gisela Veile, Inhaberin der „Alten Post“erklärte: „Wenn dieser Plan durchgeht, kann ich mein Hotel zu machen.“Damit meinte sie den auf dem Tisch liegenden Vorschlag der Stadt, die Altstadt an den kommenden vier Wochenenden von Freitag- bis Montagmorgen testweise weitgehend autofrei zu halten.
Akt 2: Die Verwaltung erklärt sich
Zu Beginn der eigentlichen Diskussion warb Ordnungsamtsleiter Nicolai Müller für die Idee der Verwaltung, betonte, dass niemandem geschadet werden soll und berichtete von Rückmeldungen, seit die Stadt den Test zum Beginn vergangener Woche angekündigt hatte. Dabei sei es vor allem um den Lieferverkehr und Anwohnerbelange gegangen. Diese Probleme seien allesamt gelöst worden.
Akt 3: So entwickelt sich die Debatte
Mehrfach lobten Gol-vertreter den Verwaltungsvorschlag, der über die eigene Ursprungsidee an Tests außerhalb der Geschäftszeiten hinaus geht. Andreas Vochezer berichtete von auch positiven Reaktionen aus Handel und Gastronomie. Einige Geschäftsleute würden für die Testwochenenden bereits Aktionen planen. Den Mitgliedern der anderen Fraktionen riet er, „eigenverantwortlich“abzustimmen und warb dafür unter anderem mit diesen Worten: „Ein Stehenbleiben ist ein Rückfall gegenüber anderen Kommunen.“Und:
Es handele sich um einen Versuch, vor dem „muss niemand Angst haben“. Für die CDU sprach sich Christian Natterer gegen den Test auch während der Öffnungszeiten aus: Freitags und samstags seien die wichtigsten Einkaufstage für die Altstadt. Ferner fielen etwa 60 Parkplätze „einfach weg“.
Generell sprach er sich für die bestehende Mischung aus: „Wangen hat einen sehr großen Fußgängerbereich, trotzdem braucht die Altstadt ihre Durchfahrtsschneisen.“Weil Handel und Gastronomie durch die Schließungen gebeutelt seien, sollte alles unterlassen werden, was den Branchen schaden könnte. Zuvor nicht-öffentlich hatte die CDU einen nach ihren Angaben von 46 Geschäftsleuten unterzeichneten Brief gegen den Versuch an OB Michael Lang überreicht.
Spd-fraktionschef Alwin Burth erhoffte sich durch den Test eine gesteigerte Aufenthaltsqualität und mehr Frequenz. Überdies profitierten auch Hotels, weil es weniger Lärm und Abgase gebe. Selbst große Städte wie Zürich seien Vorbild für einen autofreien Stadtkern.
Reinhold Meindls Worte klangen bisweilen so, als würden die Freien Wähler an dem Test Gefallen finden. Etwa, als er sagte: „Einige Händler sollten sich nicht jeder Veränderung verwehren.“Es kam anders. Denn Meindl sprach sich klar gegen einen Versuch während der Öffnungszeiten aus, bemängelte mangelhafte Informationen, wie der Test bewertet werden soll und schlug stattdessen ein besseres Parkleitsystem sowie den Bau eines „fremdfinanzierten Parkdecks“vor, um Verkehr aus der Altstadt herauszuhalten.
Auch Klaus Schliz bemängelte für die FDP das fehlende Evaluationskonzept: „Das, was wir hier machen, ist ein Projekt mit Bauchgefühl zu Lasten unserer Bürger.“
Unterm Strich bedeutete dies: Nur mit den Stimmen von GOL und SPD würde der Verwaltungsvorschlag keine Mehrheit finden.
Andreas Vochezer (GOL)
Akt 4: Ob-plädoyer und Wende
„Ich glaube, es wird Zeit, dass ich etwas sage.“Mit diesen Worten leitete OB Michael Lang ein ausführliches und von einer Präsentation unterfüttertes Werben für den städtischen Vorschlag ein. Er erklärte unter anderem: „Ich will Sie wachrütteln, dass wir etwas tun müssen, um unsere Stadt zu erhalten.“Es gehe um die Gestaltung der Zukunft und nicht um ein „Augen zu und durch“.
Der Rathauschef fragte in die Stadthalle, warum man alles an fünf bis zehn Prozent der Autos ausrichten müsse, die in die Innenstadt fahren. Mehr seien es nicht, die direkt den Stadtkern anfahren. Es gehe darum, jetzt besonders gebeutelten Branchen des Einzelhandels zu helfen – und von denen gebe es in der Altstadt viele. Namentlich nannte er die Bereiche Bekleidung, Spielwaren, Schuhe sowie Uhren und Schmuck. Der OB verwies auf Aussagen der Münchener Stadtentwicklungsberater von Cima, des Städtetags sowie der Industrie- und Handelskammer. Danach gehe es heute nicht mehr um Einkaufsmeilen, sondern um das Erlebnis beim Einkauf und darum, das zu bieten, „was es beim Online-handel nicht gibt“.
Lang gab zu, die teilweise heftige Kritik seit Bekanntwerden des Vorschlags seien „an die Nieren gegangen“, die Reaktionen hätten aber auch geholfen. In diesem Zuge trug er – anonymisiert – eingegangene Pro- und Contra-argumente vor. Demnach gibt es offenbar Test-befürworter, die sich aus Angst niedergemacht zu werden, nicht öffentlich äußern wollen. Andere berichteten von auswärtigen Gästen, die sich über die Autos in der Altstadt wunderten. Gegner hielten dem entgegen: Autofreie Wochenenden garantierten eine leere Stadt oder andere Maßnahmen wie die geplante flächendeckende Einführung von Parkgebühren machten aus ihr ein „Museum“. Zwischenzeitlich ließ Michael Lang auch durchblicken, weshalb die Verwaltung mit dem Test so plötzlich Anfang vergangener Woche auf den Plan getreten war. Wegen der Pandemie habe man im Frühjahr nicht diskutieren können. Jetzt habe die Zeit wegen der nahenden Ferien und des anschließenden Herbstes gedrängt. Am Ende seines langen Plädoyers überraschte der Rathauschef dann mit einer Wende. Er machte den Räten drei Abstimmungsvorschläge: nach wie vor auch während der Geschäftszeiten des Handels zu testen, dies nur zu anderen Uhrzeiten zu tun. Oder das ganze Projekt um ein Jahr zu verschieben – allerdings mit der Absicht, den Versuch dann tatsächlich anzugehen. In diesem Fall will die Stadt vorher mit allen Betroffenen reden. Lang sprach sich für die dritte Variante aus, da er den Konsens suche und dieser Gestaltungsfrage
„ein freundliches Gesicht“ohne Kampfabstimmung geben wolle.
Akt 5: So reagieren die Räte
Gol-fraktionschef Tilman Schauwecker gratulierte dem OB zu „dieser Ansprache“, konstatierte, dass dessen ursprüngliche Idee nicht mehrheitsfähig sei und sprach sich spontan für die Verschiebung aus – „auch wenn erneut ein Jahr verloren geht, was mich persönlich kränkt“. Reinhold Meindl und Ingrid Detzel (FW) sprachen sich ebenfalls für diese Richtung aus. Meindl forderte in diesem Zuge eine Kundenbefragung und Prüfkriterien für den Test. Das Jahr 2022 hielt er wegen dann zu erwartender Veranstaltungen ohnehin für günstiger. Detzel erklärte: Bis dahin könne sich der Handel erholen. Zudem könne das dann greifende neue Stadtbuskonzept „Löcher schließen“.
In dieselbe Richtung ging auch Christian Natterer. Der CDU-MANN sah darin die Chance, Betroffene zu hören – mahnte aber zugleich: „Machen wir uns nichts vor: Am Ende wird eine Entscheidung stehen.“
Die zu treffen forderte Alwin Burth noch für den Montagabend: „Wir hätten viel gewonnen.“Alles zu verschieben, zeuge hingegen von mangelndem Selbstvertrauen: „Warum hat uns der Mut jetzt verlassen? Was ist gewonnen? Die Meinungen sind nächstes Jahr die gleichen.“
Erneut ergriff OB Lang das Wort. Jetzt warb er noch deutlicher für Autofrei-tests im nächsten Jahr: Der Erfolg hänge von den Mitmachenden und Betroffenen ab. „Wir machen das nicht gegen irgendjemanden.“Den eigenen Vorschlag bezeichnete er als „eine Form der Nichtentscheidung“beziehungsweise eine „Absichtserklärung ohne Festlegung“. Das vor diesem strategischen Hintergrund: „Wenn du es eilig hast, dann gehe langsam.“
Akt 6: 20 Minuten Pause
Es ist selten, dass der Wangener Gemeinderat seine Sitzungen unterbricht, damit sich die Fraktionen nochmals zu einer Frage intern beraten können. Am Montagabend war dies nach bis dahin rund anderthalbstündigen Debatte zur autofreien Innenstadt der Fall – sogar für ganze 20 Minuten. Einige Fraktionen steckten in der Stadthalle die Köpfe zusammen, andere zog es ins Freie. Die Spannung war greifbar, denn zum weiteren Vorgehen gingen die Meinungen auch hinter den Kulissen auseinander. Auf der einen Seite wurde die Suche nach dem Konsens gelobt, auf der anderen kritisiert: „Wir drehen uns im Kreis.“Kurz vor Ende der Unterbrechung berieten dann die Fraktionsspitzen gemeinsam mit OB Lang.
Akt 7: Letzte Runde und Entscheidung
Als Stadträte wie die zahlreichen Besucher wieder saßen, verlas der Rathauschef den präzisierten, neuen Beschlussvorschlag. Der lautete: „Die Durchführung der „autofreien Altstadt“in Form eines Pilotprojektes/ Testung für vier Wochenenden wird angestrebt und soll im Sommer 2022 im Zeitraum zwischen Mitte Juli und Mitte August stattfinden. Vor einer abschließenden Entscheidung im Gemeinderat soll eine Beteiligung der Öffentlichkeit und der Betroffenen (Handel, Gastronomie, Dienstleistungen, Nachbarn) stattfinden.“
Jetzt verkündete Tilman Schauwecker, die GOL werde da doch nicht mitgehen, sondern sich enthalten. Er begründete dies mit dem zuvor schon bedauerten Zeitverlust durch die Verschiebung der Tests. Hannah Rogosch ergänzte, das neue Papier enthalte „zu wenig Verpflichtung. Es fühlt sich nicht so an, als ob sich im nächsten Jahr etwas ändert“.
An diesem Punkt griff Cdu-fraktionschef Mathias Bernhard ein: Wenn die GOL sich enthalte, gebe es keinen Konsens. Dann könne man die Vorlage(n) gleich komplett zurückziehen. Dem widersprach Michael Lang: „Dann haben wir nichts festgehalten. Das haben wir aber verdient, nach allem, was wir über uns ergehen lassen mussten.“
Ob sich bis zum kommenden Jahr Lage wie Stimmung ändert, musste an diesem Montagabend naturgemäß offen bleiben. Klaus Schliz signalisierte aber schon da: Gibt es bis dahin ein Evaluationskonzept und werde mit den Betroffenen gesprochen, „dann machen wir das selbstverständlich. Am Ende votierte der Gemeinderat einstimmig bei neun Enthaltungen der GOL für die Tests im kommenden Jahr. Um 20.29 ging er zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung über.
„Ein Stehenbleiben ist ein Rückfall.“
„Wenn du es eilig hast, dann gehe langsam.“
OB Michael Lang