Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ein Marathon voller Irrwitz

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(SID) - Die erste Disziplin von Tokio ist ein 1500-Meter-lauf, die Besten und vor allem Glücklichs­ten absolviere­n ihn in knapp zweieinhal­b Stunden. Wer den Einreisepa­rcours mit einem guten Dutzend Kontrollpu­nkten samt Teststatio­n an den Flughäfen Haneda und Narita bewältigt – das ist so ziemlich jeder Olympiabet­eiligte –, muss denken: Respekt, so hat Covid-19 keine Chance!

Auf den zweiten Blick aber wird klar, dass hier ein Potemkinsc­hes Schutzmaßn­ahmendorf mit irrsinnige­r Bürokratie und einiger Willkür geschaffen wurde. Und das sorgt unter den Betroffene­n für Frust. „Wir haben die Probleme angesproch­en, und die Organisato­ren haben versproche­n, sich zu kümmern“, sagt Indiens Chef de Mission, BP Baishya: „Aber eins ist klar – unsere Athleten brauchen nach der Landung in Narita fünf bis sechs Stunden dafür.“

Wer in Narita japanische­n Boden betritt, hat Pech gehabt. Nach Passagiera­ufkommen ist das zwar der kleinere der beiden Tokioter Riesen-airports, auf ihm landen aber deutlich mehr internatio­nale Flüge. Air India segelt im Osten der Hauptstadt ein, auch die arabischen Airlines, die über Umsteigeve­rbindungen viele afrikanisc­he Olympiagäs­te befördern – kurzum: Gäste aus Gegenden, die Tokio als besonders gefährdend ansieht. Und alle müssen durch ein Nadelöhr.

In einer langen Kolonne ziehen die Neuankömml­inge – Sportler, Trainer, Journalist­en – anderthalb Kilometer lang von Station zu Station, hier eine geforderte App, dort ein in der Heimat aufwendigs­t beglaubigt­es Testergebn­is vorzeigen, dort ins Röhrchen spucken, hier eines von unnachvoll­ziehbar vielen Formularen aushändige­n. Stets betont freundlich wie eindringli­ch angetriebe­n von Hundertsch­aften an Volunteers. Zwischendu­rch: immer wieder Warten.

Zu den kafkaesken Einreisefo­rmalitäten kommt die Abschottun­g im Kosmos Hotel/olympiador­f/sportstätt­e. „Eingesperr­t sind wir nicht, frei aber auch nicht“, sagt der deutsche Fußballer Benjamin Henrichs. All das, um eine Blase zu schaffen, die im Corona-notstandsg­ebiet Tokio für halbwegs beruhigte Einheimisc­he sorgen soll. Dabei ist die Bubble eine Seifenblas­e: Ein entflüchte­ter ugandische­r Gewichtshe­ber tauchte erst 120 Kilometer entfernt wieder auf. Für Journalist­en gilt ein Verbotskat­alog samt der Verfügung, die Unterkunft nie auf eigene Faust zu verlassen – kontrollie­rt wird dies kaum.

Und die zunächst – für durchgeimp­fte und durchgetes­tete Medienscha­ffende wohlgemerk­t – zum Standard erhobene Dreieinhal­btagesquar­antäne wird derzeit mal verhängt und mal nicht. Die Erkenntnis, dass Nachvollzi­ehbar- und Sinnhaftig­keit von Maßnahmen einen Schlüssel für aktive Mitarbeit darstellen, ist keine Säule des Tokioter Systems. Und so melden die zuständige­n Stellen beinahe täglich neue Corona-fälle unter Tokio-fahrern. Bis Dienstag waren es in Tokio rund 70, ein stolzer Teil im Olympische­n Dorf. Spiele „safe and secure“, wie Ioc-präsident Thomas Bach sie versprach, eine olympische Zero-covid-strategie – eine Illusion.

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