Gemeinde beschlagnahmt private Mietwohnung
Weil einer Familie Obdachlosigkeit droht, darf sie trotz eigentlicher Zwangsräumung wohnen bleiben
von Silvia Reich-recla
- „Fassungslos, ja ich bin fassungslos“, sagt eine 47-jährige Vermieterin aus Fischen. Sie hatte eine Räumungsklage gewonnen. Aber Mitte Juli kam nicht der von ihr beauftragte Gerichtsvollzieher, um die unliebsamen Mieter aus der Wohnung in Fischen zu weisen. Stattdessen beschlagnahmte die Gemeinde die Räume bis Mitte Oktober, um die dreiköpfige Familie weiter dort wohnen zu lassen. Begründet wird das mit „drohender Obdachlosigkeit“und „Gefahrenabwehr“. Die Eigentümerin ist verpflichtet, die Mieter weiterhin zu dulden, heißt es in dem Schreiben der Verwaltungsgemeinschaft Hörnergruppe.
Die Fischingerin empört sich darüber. Die Familie, die seit September 2020 dort wohnt, habe mehrere Monate keine Miete bezahlt. Sie lasse die Wohnung verkommen. Die Oberallgäuerin, die ihren Namen nicht nennen möchte, zog deshalb vor Gericht und bekam Anfang April Recht: Die Mieter wurden verpflichtet, auszuziehen. Übrigens nicht zum ersten Mal: Bereits in früheren Jahren gab es Klagen gegen sie, unter anderem wegen ausgebliebener Mietzahlungen. Wir berichteten darüber. Fischens Bürgermeister Bruno Sauter sagt, er habe von der Zwangsräumung, die Mitte Juli vorgesehen war, erst kurz vorher erfahren. Die Gemeinde besitze für solche Notfälle zwar eine Wohnung, doch die sei derzeit belegt. Dass die Familie vorerst in den Räumen in Fischen bleibt, sei deshalb „aktuell die schnellste Lösung, praktikabel und vernünftig“.
Die Vermieterin, sieht das freilich anders. Sie wohnt im Erdgeschoss. Auf dem Balkon darüber lagere die Familie Katzenstreu voller Urin und Kot. „Das ganze Haus stinkt, ich kann meine Terrasse nicht mehr nutzen, halte meine Fenster immer geschlossen.“Eine Bekannte habe ihr eine Wohnung in einem anderen Dorf zur Miete angeboten. Sie erwägt, dort vorübergehend einzuziehen. „Ich halte es mit dieser Familie über mir nicht mehr aus.“Der Rathauschef wiederum beruft sich auf „eine drohende Obdachlosigkeit“und auf das „Landesstraf- und Verordnungsgesetz“. Das ermögliche ihm, die Wohnung vorübergehend zu beschlagnahmen, damit die Familie erst einmal ein Dach über dem Kopf hat. Eine andere Lösung sei kurzfristig nicht möglich gewesen.
Die Gemeinde zahle der Eigentümerin
für drei Monate die Miet- und Nebenkosten, wie vertraglich vereinbart. „Ich darf die Familie nicht einfach auf die Straße setzen“, begründet Sauter die Enteignung auf Zeit. Er möchte bald „eine für alle Seiten akzeptable Lösung finden“und sei daher in Kontakt mit dem Landratsamt. Das halte für solche Zwecke aber keine Wohnungen bereit, sagt Pressesprecher Michael Läufle. „Das ist nicht unsere Aufgabe“. Es gebe auch keine Daten darüber, wie oft Gemeinden Wohnungen beschlagnahmen, um sie in Notfällen anzumieten.
Anwalt Ralf Brückner, Zweiter Vorstand vom Verein „Haus und Grund“in Kempten, kann sich an einen Fall vor vielen Jahren in Buchenberg erinnern. Es komme aber immer wieder vor, dass ein Mieter die Kosten für die Wohnung nicht mehr aufbringen kann. „Mit diesem Risiko muss jeder Vermieter leben.“Eine Rechtsschutzversicherung für Wohnraumvermietung könne helfen, auch wenn sie im Regelfall erst bei Gerichtsverfahren greife.
Die Vermieterin hatte keine solche Versicherung. Sie musste, um den Zivilprozess gegen die säumigen Mieter starten zu können, „dem Gericht 6000 Euro vorstrecken“. Der Geldeinsatz schien sich zu rentieren, denn die Mieterfamilie wurde dazu verpflichtet, 90 Prozent der Prozesskosten zu tragen – und auszuziehen. Sie habe bis heute weder das Geld erhalten, noch ist sie ihre Mieter losgeworden. „Ich empfinde das als extrem ungerecht.“„Es ist verständlich, dass Betroffene das als ungerecht empfinden“, sagt Claus Ammann, Direktor des Amtsgerichts Sonthofen. „Aber nach der Gesetzeslage ist es so, dass ein Kläger bei einem Zivilprozess das finanzielle Risiko trägt.“Er müsse zunächst einen Gerichtskostenvorschuss einzahlen, dann werde das Verfahren in Gang gesetzt. „So soll sichergestellt werden, dass bei einer Zahlungsunfähigkeit der Staat nicht auf den Kosten sitzen bleibt.“
Die Gemeinde wiederum sei verpflichtet, „sofern der Zwangsgeräumte keine neue Unterkunft hat, eine drohende Obdachlosigkeit zu verhindern“. Wenn keine andere Wohnung zur Verfügung steht, kann die Gemeinde den Mieter in die bisherige gemietete Wohnung einweisen, sagt Ammann. Das sei aber nur in Fällen schwerster Notlagen und nur für einen eng begrenzten Zeitraum zulässig.