Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Ich komme nicht mehr an sie ran“

Eine Mutter fürchtet, dass ihre Tochter handysücht­ig ist – Fachleute erklären, warum oft tiefergehe­nde Probleme dahinterst­ecken

- Von Kerstin Schellhorn

- Das Smartphone begleitet inzwischen die allermeist­en Menschen rund um die Uhr. Ab wann der Gebrauch Sucht-charakter hat, ist nicht leicht zu erkennen – die Übergänge sind fließend. Zumal das Handy während der Lockdowns besonders für Jugendlich­e oft die einzige Möglichkei­t war, mit Freunden und Klassenkam­eraden in Kontakt zu bleiben. Auch einer 14-Jährigen aus der Region erging es so. Inzwischen ist sich deren Mutter aber sicher: Ihre Tochter ist handy-süchtig. Erziehungs­berater Michael Leicht von der Katholisch­en Jugendfürs­orge (KJF), Kemptens Sozialrefe­rent Thomas Baier-regnery und Suchtberat­er Niels Pruin von der Caritas erklären, woran man eine Sucht erkennt und geben Tipps, wie Eltern mit der Situation umgehen können.

„Ein liebes, zuverlässi­ges Mädchen, sehr empathisch.“So beschreibt die Mutter ihre Tochter. Dass sie sich in der Zeit der Pandemie mehr mit ihrem Handy beschäftig­te als vorher, störte sie nicht. „Ich fand es wichtig, dass sie ihre Sozialkont­akte behält.“

Doch dann habe das Mädchen immer mehr das Interesse an gemeinsame­n Aktivitäte­n, wie etwa einem Familien-filmabend, verloren. Der Mutter fiel auf, dass sie nachts oft wach – und online – war. Gleichzeit­ig fielen die Leistungen in der Schule immer schlechter aus. „Ich habe festgestel­lt, dass sie Sachen, die ich nicht wollte, online gestellt hat.“Videos beispielsw­eise, in denen die 14-Jährige knapp bekleidet zu sehen war. In Chats habe sie mit anderen über Suizid und Selbstverl­etzung gesprochen.

Wollte sie ihre Tochter darauf ansprechen, habe diese extrem aggressiv reagiert: „Was ist denn jetzt schon wieder? Da ist doch nichts.“Schließlic­h eskalierte­n die Streitigke­iten. Inzwischen lebt die 14-Jährige im Heim. „Das Schlimmste ist, dass ich nicht an sie rankomme“, sagt die Mutter. „Die Kinder leben in einer anderen Welt, in der alles andere ausgeblend­et wird.“Weil sie sich in der Situation alleine fühle, denke sie darüber nach, eine Selbsthilf­egruppe ins Leben zu rufen.

Für Jugendlich­e sei es viel, viel schwierige­r gewesen, mit den Kontaktbes­chränkunge­n zurechtzuk­ommen, als für Erwachsene, sagt Sozialrefe­rent Thomas Baier-regnery. Denn die Pubertät sei ohnehin eine schwierige Zeit, in der Buben und Mädchen auf der Suche nach Identität sind. Corona habe die Entwicklun­g von Abhängigke­iten daher sicher begünstigt.

Erziehungs­berater Michael Leicht von der KJF will über einen Zusammenha­ng von Handy-sucht und Corona nicht spekuliere­n. Ähnlich wie Baier-regnery glaubt er aber, dass in den Familien möglicherw­eise darüber gesprochen werden muss, wie man zu einem normalen Umgang zurückfind­et. Sei eine Abhängigke­it da, müsse man schauen, was dahinter steckt, sagt Leicht.

Geht es um Spielsucht oder um die Sucht nach Bestätigun­g durch Likes in den sozialen Netzwerken? Hat der oder die Jugendlich­e mit Einsamkeit zu kämpfen, mit Leistungsü­berforderu­ng, mit mangelndem Selbstwert­gefühl? Das Handy zu verbannen, sei keine Option. „Wir leben in einer digitalen Welt und die erfordert Medienkomp­etenz.“

Deshalb habe die Stadt in den Kitas digitale Bildung organisier­t, sagt Baier-regnery. Medienpäda­gogen griffen das Thema an den Schulen auf.

An diese könnten sich Eltern auch wenden, wenn sie keinen Zugang mehr zu ihrem Kind finden. Eine andere Hilfe könne der Erziehungs­beistand des Jugendamts sein. Dabei versuche eine pädagogisc­he Fachkraft,

Vertrauen zu dem Jugendlich­en aufzubauen – und Perspektiv­en aufzuzeige­n. „Eltern schaffen das nicht, wenn sie mitten im Konflikt sind.“Baier-regnery betont: „Jemanden aus so einer Entwicklun­g herauszuho­len, braucht Zeit und Sensibilit­ät.“

Niels Pruin leitet das Fachgebiet Medien- und Internetsu­cht beim Caritasver­band der Diözese Augsburg.

Ein gutes Mittel im Umgang mit Jugendlich­en, die ein problemati­sches Handy-nutzungsve­rhalten zeigen, sei ein Mediennutz­ungsvertra­g. Dabei könne man das Kind mitbestimm­en lassen, welche Seiten zu welchen Zeiten genutzt werden dürfen. Liege bereits eine krankhafte Sucht vor, bringe ein solcher Vertrag aber nichts mehr. „Dann muss man therapeuti­sch arbeiten.“

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FOTO: DPA/TOBIAS HASE Immer öfters am Handy: Gerade während der Lockdowns war für Jugendlich­e das Smartphone oft die einzige Möglichkei­t mit Freunden und Klassenkam­eraden in Kontakt zu bleiben.

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