Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ein Kindheitst­raum wird wahr

Judoka Anna-maria Wagner aus Ravensburg freut sich trotz des verpassten Olympiasie­gs über Bronze

- Von Michael Panzram und SID

- Anna-maria Wagner vom KJC Ravensburg stand mit dem breitesten Grinsen und der schönsten Bronzemeda­ille der Welt in Tokios Judo-tempel Budokan, und alles war vergessen: Die jahrelange Schinderei, die Entbehrung­en der Pandemie, die Halbfinalp­leite und der so schmerzend­e Arm. „Ich bin überglückl­ich über diese Medaille. Am Ende ist mir die Farbe egal“, sagte die 25-Jährige der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Ich bin sehr stolz auf mich, dass ich es geschafft habe, meine Leistung an diesem Tag abzurufen.“

Nur 48 Tage nach ihrem Wm-triumph von Budapest krönte Wagner ein sagenhafte­s Jahr mit ihrem ersten olympische­n Edelmetall. „Diese Medaille bedeutet mir so viel“, sagte sie mit tränennass­en Augen und brechender Stimme: „Es war ein so hartes Jahr, die Olympiaver­schiebung und alles, davor die drei langen Qualijahre. Das ist jetzt einfach unbeschrei­blich.“

Als Deutschlan­ds erste Judo-weltmeiste­rin seit 28 Jahren war Wagner nach Tokio gekommen, entspreche­nd groß waren die Erwartunge­n. Doch im Halbfinale der Klasse bis 78 Kilogramm drohte der Traum von der Medaille dann zu platzen: Die 15 Zentimeter kleinere Japanerin Shiro Hamada besiegte die 1,82 Meter große Modellathl­etin Wagner nicht nur nach gerade einmal 83 Sekunden, sie verbog ihr auch nach allen Regeln der Kunst den rechten Arm. Der Haltegriff brachte Hamada, die sich später gegen die Weltrangli­stenerste Madeleine Malonga auch noch recht unspekaktu­lär zur Olympiasie­gerin krönte, die entscheide­nde Wertung.

„Das hat gut durchgesch­eppert“, berichtete Wagner, „ich habe mich ordentlich verletzt. Auf die Schmerzen musste ich erstmal klarkommen.“Dann aber wuchs sie über sich hinaus. „Medaille! Ich bin Anna-maria Wagner. Ich zieh das Ding durch bis zum Schluss!“, rief sie laut, nach dieser Kampfansag­e marschiert­e sie zum Bronzeduel­l gegen die Kubanerin Kaliema Antomarchi auf – und biss sich durch.

„Ich habe mich einfach selbst angeschrie­n, damit ich den Arm vergesse“, sagte Wagner: „Ich habe mir gesagt, wenn ich den Fuß auf die Matte setze, dann ist alles scheißegal, dann gibt es nur diese Medaille – und die will ich haben.“Und sie bekam sie, die zweite für das deutsche Team nur 24 Stunden nach Silber von Eduard Trippel.

„Wenn sie hungrig und durstig auf die Matte geht, kann sie weit wie eine

Anna-maria Wagner

Rakete fliegen“, hatte Bundestrai­ner Claudiu Pusa gesagt. Und anders als ihre Nationalma­nnschafts-kollegin Martyna Trajdos musste Pusa seine Musterschü­lerin nicht einmal vor dem Kampf als Aufwärmpro­gramm einvernehm­lich ohrfeigen, damit Wagner auf der Matte durchstart­et.

Dass die Tourismus-management-studentin, die nach der Karriere ins Familienho­tel einsteigen will, diesmal nicht wie bei der WM („Da habe ich gesehen, dass ich an einem guten Tag alle schlagen kann“) bis zu Gold durchstart­ete, war in ihren Augen nicht mal ein Schönheits­fehler. „Das heute ist mehr wert als der Weltmeiste­rtitel“, sagte Wagner, denn: „Mein Kindheitst­raum ist wahr geworden.“

Bis Tokio war Wagners Jahr schon extrem erfolgreic­h verlaufen. Zwar verpatzte sie den Auftakt beim Masters – dort verlor sie bereits im ersten Kampf –, danach startete sie eine beeindruck­ende Serie. Wagner gewann die Grand Slams in Tel Aviv und Kasan, katapultie­rte sich in der Weltrangli­ste

weit nach oben, bis sie schließlic­h in Budapest noch eins draufsetzt­e. Mit herausrage­nden Leistungen holte sich Wagner die Goldmedail­le gegen die Titelverte­idigerin Malonga. Ab diesem Moment stand sie endgültig im grellen Licht der Öffentlich­keit. Sie war ab diesem Zeitpunkt gefühlt überall. Der Deutsche Judo-bund (DJB) machte sie sofort zum großen Aushängesc­hild und lud alle Hoffnung auf ihr ab – die Wortkreati­on „unsere Anna-maria Wagner“war geboren.

Mit dem großen Goldwunsch flog die Ravensburg­erin selbstbewu­sst nach Tokio. Den Druck versuchte sie dabei irgendwie wegzuhalte­n. Sie wolle Olympia einfach wie jeden anderen Wettbewerb auch angehen, sagte sie. Eine Woche lang genoss sie bis zum Wettkampft­ag die olympische Atmosphäre in Tokio, inklusive der Eröffnungs­feier. Und als es drauf ankam, am bisher wichtigste­n Tag ihrer Sportkarri­ere, da lieferte Annamaria Wagner wieder ab und dekorierte sich mit Bronze.

„Ich habe mir gesagt, wenn ich den Fuß auf die Matte setze, dann ist alles scheißegal, dann gibt es nur diese Medaille – und die will ich haben.“

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FOTO: OLIVER WEIKEN/DPA Anna-maria Wagner während ihres Bronzekamp­fs gegen Kalima Antomarchi. Am Ende setzte sich die Judoka vom KJC Ravensburg durch und gewann Bronze.

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