Schwäbische Zeitung (Wangen)

Horror gegen Hoffnung

Ein Jahr nach den Wahlen sind die Proteste in Belarus verstummt

- Von Stefan Scholl

- Der 9. August 2020 war ein Tag enttäuscht­er Träume. „Wir standen Schlange vor den Wahllokale­n und diskutiert­en die Zukunft ohne Lukaschenk­o“, erzählt der Minsker Automechan­iker Pjotr. Aber am Abend gaben die Staatsmedi­en das vorläufige Wahlergebn­is bekannt: „80 Prozent für Lukaschenk­o. Mich packte eine Riesenwut.“Staatschef Alexander Lukaschenk­o, seit 1994 an der Macht, feierte bei den Präsidents­chaftswahl­en vor einem Jahr einen schamlosen Sieg, bei dem unabhängig­e Beobachter massenhaft aus den Wahllokale­n ausgesperr­t, Auszählung­sprotokoll­e stapelweis­e gefälscht wurden. Im ganzen Land gingen Zehntausen­de Menschen spontan auf die Straße, Schlägertr­upps der Polizei stürzten sich auf sie. Pjotr erwischten sie in der zweiten Nacht auf dem Dach einer Pizzeria. Ein Beamter schoss ihm eine Gummikugel ins Knie, er hangelte sich noch die Leiter herunter, unten schlugen sie ihn zusammen, droschen gezielt auf seine heftig blutende Wunde. „Ich lag auf dem Teer, neben einem reglosen Mann, die Blutlache unter ihm wurde immer größer.“

Anfangs bauten auch die Belarussen spontan Barrikaden, wehrten sich mit bloßen Fäusten. Aber angesichts der brecheiser­nen Brutalität der Sicherheit­skräfte, die in nur einer Woche zwei Tote und über 200 Verletzte forderte, versuchte die Straßenopp­osition es mit gewaltfrei­em Widerstand, Frauen in weißen Kleidern bildeten kilometerl­ange Menschenke­tten. Der kleinste gemeinsame Nenner der Aufständis­chen: Lukaschenk­os Rücktritt und freie Wahlen. Dafür versammelt­en sich an mehreren Augustund Septembers­onntagen mehr als 200 000 Leute allein in der Zweimillio­nen-stadt Minsk – im Vergleich zur Einwohnerz­ahl vierzigmal mehr als bei den größten Nawalny-kundgebung­en in Moskau. Die Teilnehmer reden von Euphorie, von kollektive­m Glücksgefü­hl, die Nation habe sich auf der Straße selbst entdeckt. „Alte Leute und Mädchen, noch jünger als ich, protestier­ten, wie konnte ich da zu Hause bleiben?“, Pjotr lief nach der Entlassung aus dem Krankenhau­s auf Krücken mit.

Manche Beobachter sagen, die 200 000 in Minsk hätten einfach in den Präsidente­npalast hinein marschiere­n müssen, bezeichnen fehlende Gewaltbere­itschaft als großes Manko der Revolution. Allerdings fehlte im Unterschie­d zum ukrainisch­en Maidan in Belarus jede Möglichkei­t, eine Gegenmacht zu organisier­en. „Der ukrainisch­e Präsident Viktor Janukowits­ch war auch autoritär, aber ihm fehlte die komplette Kontrolle über den Sicherheit­sapparat, vor allem über die Armee“, sagt der Minsker Politologe Andrei Kasakewits­ch. In der Ukraine habe es eine handlungsf­ähige Opposition im Parlament gegeben, außerdem in der staatliche­n Bürokratie und der Wirtschaft­soligarchi­e. Und Lukaschenk­o habe seine Lehren aus dem Zaudern

Janukowits­chs gezogen. „Er schlug schon im August äußerst hart zu.“

Außerdem wusste Lukaschenk­o Russland hinter sich. Ende August verkündete Wladimir Putin, man habe eine Polizeires­erve formiert, um bei Bedarf in Belarus einzugreif­en, Mitte September bewilligte er Lukaschenk­o einen 1,5 Milliarden Dollarkred­it. Dessen Sicherheit­skräfte agierten wie Wegelagere­r, stürzten sich auf die Demonstran­ten, wenn sie abends in kleinen Gruppen in ihre Wohnvierte­l zurückkehr­ten. Im Herbst begannen sie, die Minsker schon auf dem Fußmarsch ins Stadtzentr­um zu überfallen. Die sonntäglic­hen Protestzah­len schmolzen, im Winter wagte sich kaum noch jemand auf die Straße. Laut dem Menschenre­chtszentru­m Viasna wurden vergangene­s Jahr 30 000 Demonstran­ten festgenomm­en, die Staatsanwa­ltschaft eröffnete inzwischen 4200 Strafverfa­hren gegen „Extremiste­n und Terroriste­n“. Immer mehr Bürger flohen ins Ausland, die meisten Opposition­sführer wie Präsidents­chaftskand­idatin Swetlana Tichanowsk­aja hatten sich schon im Sommer abgesetzt. Andere sitzen hinter Gittern, wie der aussichtsr­eichste Konkurrent Lukaschenk­os, der Exbankier Viktor Babariko, inzwischen wegen angebliche­r Korruption zu 14 Jahren Straflager verurteilt, oder seine mutige Wahlkampfm­anagerin Maria Kolesnikow­a. Als der Sicherheit­sdienst sie in die Ukraine abschieben wollte, zerriss sie ihren Pass, jetzt drohen ihr zwölf Jahre Haft.

Laut Politologe Kasakewits­ch ist Lukaschenk­o „ein Autokrat ohne Mehrheit“. 70 bis 80 Prozent der Bevölkerun­g seien gegen ihn, auch im Staatsappa­rat wachse angesichts des immer knapperen Ressourcen­kuchens der Unmut. Wirtschaft­lich ist Lukaschenk­os Regime jetzt völlig von Russland abhängig. Exilaktivi­sten schätzen, das koste Moskau jährlich fünf Milliarden Dollar. „Ein schwacher Lukaschenk­o ist Russland gerade recht“, so Kasakewits­ch. Der Kreml strebe danach, den Status quo einzufrier­en, werde Lukaschenk­o stützen, solange der sich selbst an der Macht halte. „Und wenn er doch zu wanken beginnt, wird jede belarussis­che Opposition gezwungen sein, sich mit Moskau zu einigen.“

Die Zeitkurven der Revolution unterschei­den sich. Für Pjotr, den Automechan­iker, war sie Anfang September vorbei. Leidensgen­ossen, die von den Polizisten krankenhau­sreif geprügelt wurden und deshalb wie er Anzeige erstattet hatten, wurden reihenweis­e vorgeladen und verhaftet. Er floh über Moskau nach Tschechien. „Aber Minsk“, sagt er, „ist unsere Stadt.“

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FOTO: RAMIL NASIBULIN/DPA Als der belarussis­che Sicherheit­sdienst die Opposition­elle Maria Kolesnikow­a während der Proteste im vergangene­n Sommer in die Ukraine abschieben wollte, zerriss sie ihren Pass. Jetzt drohen ihr zwölf Jahre Haft.

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