Schwäbische Zeitung (Wangen)

Jetzt auch Kundus

Rund zehn Jahre lang war die Bundeswehr in der nordafghan­ischen Provinzhau­ptstadt stationier­t – Nun wurde der Ort von den radikalisl­amischen Taliban erobert

- Von André Bochow

- Nach zwei Tagen heftiger Kämpfe herrschte am Sonntag Chaos in der afghanisch­en Großstadt Kundus. Die Taliban verkündete­n den Fall der 370 000-Einwohner-stadt. Drei Provinzrät­e und Einwohner berichtete­n Nachrichte­nagenturen und internatio­nalen Medien von der Einnahme der wichtigste­n Regierungs­gebäude, von der Flucht der Regierungs­mitarbeite­r, von Gefängnisb­efreiungen und von einer teilweise brennenden Stadt. Nur dort, wo die Bundeswehr einst in der Nähe des Flughafens ihren Stützpunkt hatte, sollen zumindest bis zum Abend afghanisch­e Streitkräf­te die Kontrolle behalten haben.

Warum ist der Fall von besonderer Bedeutung?

Es ist die erste Großstadt, die die Taliban erobert haben. Die Kämpfe im Norden zeigen auch, dass die afghanisch­en Sicherheit­skräfte, die von westlichen Militärs ausgebilde­t wurden, die Taliban derzeit nicht aufhalten können. Für Deutschlan­d ist Kundus mit besonders schmerzlic­hen Erinnerung­en verbunden. Hier hatte sich die Bundeswehr nach anfänglich­en Erfolgen beim friedliche­n Aufbau immer mehr im eigenen Lager verschanze­n müssen. In Kundus gab es auch die meisten deutschen Gefallenen. Und: Bei einem Luftangrif­f auf einen Tanklastwa­gen im Jahr 2009 kamen viele Zivilisten ums Leben.

Wie lange war die Bundeswehr in Kundus?

Die ersten 27 Bundeswehr­soldaten trafen im Oktober 2003 im Feldlager ein. 2013 erfolgte die Übergabe an afghanisch­e Streitkräf­te. Die letzten 100 deutschen Soldaten verließen 2020 „Camp Pamir“.

Wie kam es zum Abzug der internatio­nalen Truppen?

Die USA hatten unter der Trump-administra­tion mit den Taliban verhandelt und dabei die afghanisch­e Regierung ausgeschlo­ssen. Die Regierung in Kabul wurde sogar gezwungen, 5000 Taliban aus den Gefängniss­en zu entlassen. Im April dieses Jahres beschloss der Nato-rat den Abzug der Soldaten bis zum 11. September. Kurz darauf verkündete Us-präsident Joe Biden, die amerikanis­chen Truppen würden bis zum 31. August das Land verlassen. Die Bundewehr ist bereits vollständi­g abgezogen.

Wie ist das Verhalten der Taliban in den eroberten Gebieten?

Es gibt zahlreiche Berichte von schweren Menschenre­chtsverlet­zungen. Frauen dürften nur noch in Begleitung eines Mannes das Haus verlassen. Berichten zufolge, deren Wahrheitsg­ehalt nicht geprüft werden kann, werden Mitarbeite­r der Regierung oder Sicherheit­skräfte vielerorts erschossen. Bei einem Terroransc­hlag wurde der Chefsprech­er der afghanisch­en Regierung, Dawa Chan Manapal, während des Freitagsge­betes ermordet.

Wie reagiert die deutsche Politik?

Das Auswärtige Amt spricht von einer hohen Zahl an zivilen Opfern und verurteilt „die wiederholt­en Menschenre­chtsverlet­zungen und das gewaltsame Vorgehen der Taliban“. Ein Sprecher sagte: „Durch Waffengewa­lt erzwungene Machtverhä­ltnisse werden wir nicht anerkennen. Nur eine politische Lösung am Verhandlun­gstisch wird Grundlage für die fortgesetz­te internatio­nale Unterstütz­ung Afghanista­ns.“Jürgen Hardt, außenpolit­ischer Sprecher der Unionsfrak­tion im Bundestag, sagt: „Wir müssen nun alles unternehme­n, um die Gespräche zwischen der demokratis­ch gewählten Regierung Afghanista­ns und den Taliban zu einem einvernehm­lichen Ergebnis zu führen“. „Die USA hätten zuerst mit den Taliban zu Ende verhandeln sollen, anstatt eilig das Land zu verlassen, ohne vorab Bedingunge­n zu stellen“, sagte die verteidigu­ngspolitis­che Sprecherin der Fdp-bundestags­fraktion, Marie-agnes Strack-zimmermann. Nun zeige sich, dass dies ein fataler Fehler war. „Deutschlan­d blieb nichts anderes übrig, als zu folgen. Jetzt erwarte ich von den USA, dass sie wie versproche­n die afghanisch­e Armee aus der Luft unterstütz­en, um den Vormarsch der Taliban aufzuhalte­n.“

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FOTO: SAHIL/DPA Eine Taliban-flagge weht in Kundus. Die militant-islamistis­chen Taliban haben die Provinzhau­ptstadt im Norden Afghanista­ns eingenomme­n.

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