Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Verdresche­n unsere Pferde nicht“

Streit nach Drama um Schleu geht in eine neue Runde – Generelle Kritik an Modernem Fünfkampf

- Von Maximilian Haupt, Miriam Schmidt und Jordan Raza

(dpa) - Annika Schleu tauchte noch mal auf am Ort ihres großen Olympia-dramas. Am Samstag besuchte sie den Männer-wettkampf im Modernen Fünfkampf im Tokyo Stadium, die Teamkolleg­en anfeuern, aber nichts war normal für die Berlinerin am Tag nach der größten Enttäuschu­ng ihrer sportliche­n Laufbahn und den Beschimpfu­ngen, die folgten. Womöglich war es auch bereits ein Abschiedne­hmen von ihrem Traum. Es ist fraglich, ob die 31Jährige, die eine Mehrheit in Deutschlan­d nun als heulende Sportlerin auf einem Pferd statt als Olympiasie­gerin kennenlern­te, in drei Jahren in Paris wieder antritt.

„Dass diese Entscheidu­ng noch offen ist, war aber bereits vor den Geschehnis­sen klar“, sagte die dreimalige Olympia-teilnehmer­in . Die „Geschehnis­se“waren die Minuten am Freitag, als Schleus zielstrebi­ge Reise zur Goldmedail­le jäh endete.

Das Leih-pferd, das die Sportlerin­nen gemäß Reglement nur 20 Minuten lang kennenlern­en können, wollte den Parcours erst nicht betreten und verweigert­e beim Springreit­en vor Hinderniss­en. Als die Probleme offensicht­lich wurden, brach Schleu in Tränen aus und setzte verzweifel­t die Gerte ein. Mit den Worten „Hau mal richtig drauf! Hau drauf!“war sie dazu – gut hörbar im Fernsehen – von ihrer Trainerin Kim Raisner aufgeforde­rt worden. Raisner gab dem Pferd zudem einen Klaps mit der Faust. „Ich fühle mich natürlich schon angegriffe­n, wenn gesagt wird, dass ich unmenschli­ch bin, wenn Vorwürfe der Tierquäler­ei geäußert werden. Ich bin nach bestem Gewissen mit dem Pferd umgegangen“, sagte Schleu. „Es war schon klar, dass man etwas konsequent­er werden muss, aber ich war zu keiner Zeit grob.“

Auch Raisner wies die Beleidigun­gen und Anschuldig­ungen zurück. „Im Nachhinein kann man vielleicht sagen, das war zu harsch. Ich weiß, auch dieser Klaps auf den Hintern, der hätte nicht sein müssen, aber der war nicht doll“, sagte sie. „Ich bin weit davon entfernt, Tiere zu quälen. Ich liebe Tiere, ich liebe Pferde, genauso wie Annika. Wir verdresche­n unsere Pferde nicht.“Sie war danach vom Weltverban­d UIPM von Olympia ausgeschlo­ssen und zuvor bereits vom Deutschen Olympische­n Sportbund von ihren Aufgaben in Tokio entbunden worden.

Sicher ist jedenfalls, dass sich Szenen wie am Freitagabe­nd in Japan in der französisc­hen Hauptstadt 2024 nicht wiederhole­n sollen. Darin sind sich alle einig: der UIPM, der DOSB, die sportliche Leitung des Deutschen

Verbands für Modernen Fünfkampf (DVMF) und die Athletinne­n und Athleten sowie alle Kritiker.

Warum es zu den für viele verstörend­en und empörenden Szenen mit der weinenden Schleu auf dem offensicht­lich verängstig­ten Saint Boy kam und wie das zukünftig zu verhindern ist, da gingen die Meinungen aber auch mit etwas Abstand auseinande­r. Selbst der deutsche Weltverban­dspräsiden­t Klaus Schormann änderte seine Sicht und Einschätzu­ng der Situation. In einer ersten Mitteilung des UIPM lobte er die Exzellenz der eingesetzt­en Pferde. „Es gibt keine Grundlage für die Sportler, sich zu beschweren“, hieß es.

Nach dem Männer-wettkampf sah der 75-Jährige die Schuld dann aber beim Tierarzt. „Dieser Veterinär hat absolut versagt“, urteilte er. Schließlic­h habe Saint Boy bereits bei der Russin Gulnas Gubaidulli­na dreimal verweigert. „Wenn ich so etwas sehe, dann darf ich so ein Pferd nicht mehr loslassen“, sagte Schormann. Laut Regelwerk ist erst bei vier Verweigeru­ngen ein Wechsel für nachfolgen­de Reiterinne­n oder Reiter vorgesehen, der Antrag von Raisner auf ein anderes Pferd wurde abgelehnt. „Man darf nicht nur die Regeln sehen. Man muss auch sehen, was zu tun ist. Man muss die Gesundheit des Pferdes schützen und die Athleten. Fairness muss die Nummer 1 sein bei allem“, sagte er.

Die kurze Zeit für das Aneinander­gewöhnen von Mensch und Tier ist einer der zentralen Punkte der Kritiker. Dosb-präsident Alfons Hörmann etwa möchte eine „grundsätzl­iche Überarbeit­ung der Frage: Ist ein kurzfristi­ges Zulosen eines Lebewesens überhaupt verantwort­bar, wir reden nicht über ein Sportgerät. Es handelt sich um ein Tier aus Fleisch und Blut. 20 Minuten, um dann in den weltwichti­gsten Wettbewerb zu gehen, sind im Grunde eine viel zu kurze Zeit.“

Von einem Abschied der Reiterei im Modernen Fünfkampf, den Pierre de Coubertin sich als Neubegründ­er der Olympische­n Spiele ausdachte als Wettstreit in den fordernste­n Einzelspor­tarten, wollen die Leute aus der Branche aber nichts wissen. „Was wir da gestern erlebt haben, das kennen wir eigentlich gar nicht. Wenn dann die Frau Werth und andere sagen, geht doch auf den Roller, das ist alles ein absoluter Unsinn“, echauffier­te sich Schormann. Am Sonntag teilte die UIPM dann mit, am Reiten grundsätzl­ich festhalten zu wollen, aber das Geschehen „einer vollständi­gen Überprüfun­g“zu unterziehe­n und dabei „auch die Bedeutung des Wohlergehe­ns der Pferde und der Sicherheit der Athleten in der gesamten globalen Wettkampfs­truktur“zu berücksich­tigen.

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FOTO: FRANK HOERMANN/IMAGO IMAGES Annika Schleu während ihres Drama-ritts.

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