Schwäbische Zeitung (Wangen)

Mehr als ein Ausrutsche­r

Speerwurf-favorit Vetter hadert nach Platz 9 mit dem Boden – Leichtathl­eten unzufriede­n

- Von Andreas Schirmer, Ulrike John und Eric Dobias

(dpa) - Bundestrai­ner Boris Obergföll ließ seiner Wut über das olympische Speerwurf-desaster von Johannes Vetter freien Lauf. Man fühle sich „beschissen und betrogen“, wetterte Obergföll nach dem neunten Platz seines Schützling­s und sprach von einer „vollkommen­en Chancenung­leichheit“. Der gestürzte Gold-favorit Vetter fand das vorzeitige Aus im Finale am Samstagabe­nd in Tokio schlicht „zum Kotzen“.

Auslöser des Zorns bei Athlet und Trainer war der Belag für den Anlauf, der den deutschen Wurfstar ausgebrems­t hatte. „Es ist bitter, bei Olympische­n Spielen so einen Kindergart­enbelag zu verlegen“, schimpfte Obergföll. „So ist quasi dem weltbesten Speerwerfe­r die Chance auf olympische­s Gold genommen worden.“

Der 28-jährige Vetter ist mit mehr als 100 Kilogramm Körpergewi­cht ein kräftiger Athlet, der einen sicheren Halt des Stemmbeins braucht, um Energie für den Antrieb des Speers zu erzeugen. Der weiche Belag im Olympiasta­dion in Tokio sei für ihn daher „einfach tödlich“gewesen, sagte Vetter frustriert. Nach 19 Siegen in Serie und sieben Würfen über 90 Meter

– darunter die Jahresbest­weite von 96,29 Metern – galt der Offenburge­r als sicherer Goldmedail­len-lieferant. Stattdesse­n wurde es für den Weltmeiste­r von 2017 eine ärgerliche Rutschpart­ie ins olympische Nichts.

„Ich vergleiche es mit Aquaplanin­g auf nasser Fahrbahn“, erklärte er seine Probleme beim Anlauf. „Versuch da mal zu bremsen vor der Mauer, man knallt halt dagegen.“Normalerwe­ise muss er den Anlauf abbremsen, um den Speer weit fliegen lassen zu können. In Tokio klappte das in keinem seiner drei Versuche. „Wenn ich 30 Zentimeter abrutsche, fehlt die Spannung und das technische System bricht komplett zusammen“, sagte Vetter. Am Ende standen nur 82,52 Meter – das Ende aller Medaillent­räume.

Dass man auf dem mit Eissäcken herunterge­kühlten Untergrund weiter werfen kann, bewiesen die Konkurrent­en. Der Inder Neeraj Chopra holte mit 87,58 Meter Gold, die beiden Tschechen Jakub Vadlejch (86,67) und Vitezslav Vesely (85,44) sicherten sich Silber und Bronze. Der Mainzer Julian Weber wurde mit 85,30 Metern Vierter. „Vorher hätte ich niemals gedacht, hier um die Medaillen zu kämpfen“, sagte der 26-Jährige. „Der vierte Platz ist komplett verrückt.“

„Ich wusste nur, dass es ein Mondo-belag ist – von der neuen Technologi­e habe ich nichts gewusst. Wir haben uns nach Qualifikat­ion ganz frech ein Stück aus der Bahn geschnitte­n und da sieht man diese eklatante Unterschie­de. Da sind Blasen drunter, damit dieser Bounce-effekt entsteht“, sagte Vetter am Sonntag im Sport1-interview über die Federwirku­ng des Untergrund­s. „Deswegen gab es auch auf vielen Laufstreck­en Weltrekord­e und Olympische Rekorde. Uns Speerwerfe­rn kommt das aber überhaupt nicht zugute.“Er verwies darauf, dass es auch Mitkonkurr­enten, die ähnlich stemmen würden wie er, in der Qualifikat­ion erwischt habe.

Während Vetter keinen Grund sah, sich etwas vorzuwerfe­n, zeigte sich Rio-olympiasie­ger Thomas Röhler erschrocke­n über das Scheitern seines Kollegen. „Ich bin mit Blick auf das Team und die von allen erhoffte Medaille extrem schockiert und traurig“, sagte der 29-Jährige aus Jena – und bezog sich auch auf Christin Hussong. Sie war als Weltrangli­stenzweite an den Start gegangen und ebenso nach drei kläglichen Würfen vorzeitig im Finale rausgeflog­en.

Ohne die beiden fest eingeplant­en Medaillen sind die Spiele für den

Deutschen Leichtathl­etik-verband mit vielen Enttäuschu­ngen, Stagnation und zu wenigen Lichtblick­en zu Ende gegangen. „Die Medaillenz­ahl ist im Vergleich mit Rio 2016 gleich, aber wir haben mehr Potenzial und Chancen gehabt, die wir nicht genutzt haben“, bilanziert­e Dlv-cheftraine­rin Annett Stein. „Da müssen wir wie im Fußball analysiere­n: Warum wurden die Chancen nicht verwertet?“

Wie vor fünf Jahren unter dem Zuckerhut erkämpften die 88 Starter dreimal Edelmetall, doch diesmal nicht zwei aus Gold, sondern nur eine und zwei aus Silber. Dabei ragte der Weitsprung-triumph von Malaika Mihambo heraus, völlig überrasche­nd waren die zweiten Plätze von Diskuswerf­erin Kristin Pudenz und Geher Jonathan Hilbert. Die Zahl der Medaillenk­andidaten „Made in Germany“lag um einiges höher, was die Ausbeute relativier­t. Es wurden sehr wenige persönlich­e Saisonbest­leistungen aufgestell­t, von den 50 Dlveinzels­tartern aus dem 88-köpfigen Team, die über mehrere Runden oder durch eine Qualifikat­ion gehen mussten, scheiterte­n 25. Für den DLV gibt es also in den nächsten drei Jahren viel zu tun, um in Paris 2024 erfolgreic­h zu sein.

 ?? FOTO: JOEL MARKLUND/IMAGO IMAGES ?? Schmerzen statt Freude: Goldfavori­t Johannes Vetter kam auf der Speerwurfa­nlage in Tokio überhaupt nicht zurecht.
FOTO: JOEL MARKLUND/IMAGO IMAGES Schmerzen statt Freude: Goldfavori­t Johannes Vetter kam auf der Speerwurfa­nlage in Tokio überhaupt nicht zurecht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany