Mehr als ein Ausrutscher
Speerwurf-favorit Vetter hadert nach Platz 9 mit dem Boden – Leichtathleten unzufrieden
(dpa) - Bundestrainer Boris Obergföll ließ seiner Wut über das olympische Speerwurf-desaster von Johannes Vetter freien Lauf. Man fühle sich „beschissen und betrogen“, wetterte Obergföll nach dem neunten Platz seines Schützlings und sprach von einer „vollkommenen Chancenungleichheit“. Der gestürzte Gold-favorit Vetter fand das vorzeitige Aus im Finale am Samstagabend in Tokio schlicht „zum Kotzen“.
Auslöser des Zorns bei Athlet und Trainer war der Belag für den Anlauf, der den deutschen Wurfstar ausgebremst hatte. „Es ist bitter, bei Olympischen Spielen so einen Kindergartenbelag zu verlegen“, schimpfte Obergföll. „So ist quasi dem weltbesten Speerwerfer die Chance auf olympisches Gold genommen worden.“
Der 28-jährige Vetter ist mit mehr als 100 Kilogramm Körpergewicht ein kräftiger Athlet, der einen sicheren Halt des Stemmbeins braucht, um Energie für den Antrieb des Speers zu erzeugen. Der weiche Belag im Olympiastadion in Tokio sei für ihn daher „einfach tödlich“gewesen, sagte Vetter frustriert. Nach 19 Siegen in Serie und sieben Würfen über 90 Meter
– darunter die Jahresbestweite von 96,29 Metern – galt der Offenburger als sicherer Goldmedaillen-lieferant. Stattdessen wurde es für den Weltmeister von 2017 eine ärgerliche Rutschpartie ins olympische Nichts.
„Ich vergleiche es mit Aquaplaning auf nasser Fahrbahn“, erklärte er seine Probleme beim Anlauf. „Versuch da mal zu bremsen vor der Mauer, man knallt halt dagegen.“Normalerweise muss er den Anlauf abbremsen, um den Speer weit fliegen lassen zu können. In Tokio klappte das in keinem seiner drei Versuche. „Wenn ich 30 Zentimeter abrutsche, fehlt die Spannung und das technische System bricht komplett zusammen“, sagte Vetter. Am Ende standen nur 82,52 Meter – das Ende aller Medaillenträume.
Dass man auf dem mit Eissäcken heruntergekühlten Untergrund weiter werfen kann, bewiesen die Konkurrenten. Der Inder Neeraj Chopra holte mit 87,58 Meter Gold, die beiden Tschechen Jakub Vadlejch (86,67) und Vitezslav Vesely (85,44) sicherten sich Silber und Bronze. Der Mainzer Julian Weber wurde mit 85,30 Metern Vierter. „Vorher hätte ich niemals gedacht, hier um die Medaillen zu kämpfen“, sagte der 26-Jährige. „Der vierte Platz ist komplett verrückt.“
„Ich wusste nur, dass es ein Mondo-belag ist – von der neuen Technologie habe ich nichts gewusst. Wir haben uns nach Qualifikation ganz frech ein Stück aus der Bahn geschnitten und da sieht man diese eklatante Unterschiede. Da sind Blasen drunter, damit dieser Bounce-effekt entsteht“, sagte Vetter am Sonntag im Sport1-interview über die Federwirkung des Untergrunds. „Deswegen gab es auch auf vielen Laufstrecken Weltrekorde und Olympische Rekorde. Uns Speerwerfern kommt das aber überhaupt nicht zugute.“Er verwies darauf, dass es auch Mitkonkurrenten, die ähnlich stemmen würden wie er, in der Qualifikation erwischt habe.
Während Vetter keinen Grund sah, sich etwas vorzuwerfen, zeigte sich Rio-olympiasieger Thomas Röhler erschrocken über das Scheitern seines Kollegen. „Ich bin mit Blick auf das Team und die von allen erhoffte Medaille extrem schockiert und traurig“, sagte der 29-Jährige aus Jena – und bezog sich auch auf Christin Hussong. Sie war als Weltranglistenzweite an den Start gegangen und ebenso nach drei kläglichen Würfen vorzeitig im Finale rausgeflogen.
Ohne die beiden fest eingeplanten Medaillen sind die Spiele für den
Deutschen Leichtathletik-verband mit vielen Enttäuschungen, Stagnation und zu wenigen Lichtblicken zu Ende gegangen. „Die Medaillenzahl ist im Vergleich mit Rio 2016 gleich, aber wir haben mehr Potenzial und Chancen gehabt, die wir nicht genutzt haben“, bilanzierte Dlv-cheftrainerin Annett Stein. „Da müssen wir wie im Fußball analysieren: Warum wurden die Chancen nicht verwertet?“
Wie vor fünf Jahren unter dem Zuckerhut erkämpften die 88 Starter dreimal Edelmetall, doch diesmal nicht zwei aus Gold, sondern nur eine und zwei aus Silber. Dabei ragte der Weitsprung-triumph von Malaika Mihambo heraus, völlig überraschend waren die zweiten Plätze von Diskuswerferin Kristin Pudenz und Geher Jonathan Hilbert. Die Zahl der Medaillenkandidaten „Made in Germany“lag um einiges höher, was die Ausbeute relativiert. Es wurden sehr wenige persönliche Saisonbestleistungen aufgestellt, von den 50 Dlveinzelstartern aus dem 88-köpfigen Team, die über mehrere Runden oder durch eine Qualifikation gehen mussten, scheiterten 25. Für den DLV gibt es also in den nächsten drei Jahren viel zu tun, um in Paris 2024 erfolgreich zu sein.