Wiener Symphoniker in Höchstform
Omer Meir Wellber dirigiert bei den Bregenzer Festspielen Ives, Strauss und Bruckner
- Bei ihrem zweiten Orchesterkonzert bei den Bregenzer Festspielen präsentierten die Wiener Symphoniker ein erlesenes Programm, wie man es in dieser Kombination nicht alle Tage hört. Als Gast am Pult ließ der israelische Dirigent Omer Meir Wellber zu Beginn im abgedunkelten Bregenzer Festspielhaus die berühmte „Unanswered Question“von Charles Ives erklingen. Anschließend stellte sich der spanische Oboist Ramón Ortega Quero als brillanter Solist des Oboenkonzerts von Richard Strauss vor. Zum Höhepunkt der Matinee geriet Wellbers packende Darbietung der sechsten Sinfonie von Anton Bruckner.
Der nordamerikanische Komponist Charles Ives (1874-1954) gilt in seiner Heimat als Pionier klassisch-moderner Kunstmusik. Seine Sinfonien wurden in der Öffentlichkeit erst spät zur Kenntnis genommen. Dirigenten wie Leopold Stokowski und Leonard Bernstein haben in den 1950er-jahren eine Lanze dafür gebrochen. In europäischen Konzertsälen sind die Werke des musikalischen Einzelgängers, der im Hauptberuf Versicherungsmakler war, immer noch unterrepräsentiert. Lediglich seine bereits 1906 entstandene „Unanswered Question“erfreut sich aufgrund ihrer originellen Grundidee einer gewissen Beliebtheit in avantgardistischen Kreisen.
Ives hat das Stück in den 30er-jahren überarbeitet, konnte aber erst 1946 die Uraufführung erleben. Fast vierzig weitere Jahre vergingen, bis auch die Erstfassung posthum aus der Taufe gehoben wurde. Über einem samtweich dräuenden Pianissimo-streicherteppich ertönt mehrfach eine kurze Trompetenphrase, die fragend ins Leere ruft. Nur scheinbar antworten zappelnde Tongebilde von vier Flöten, ohne wirklich eine musikalisch plausible „Antwort“zu geben. Auch die gedämpften Streicherklänge bleiben harmonisch ohne jeden Bezug zum Fragemotiv der Trompete. Erkenntnis über letzte Dinge, über Urgrund und Sinn des Seins wird verweigert. Der moderne Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen.
Wellber ließ in Bregenz die Trompetenrufe und die sibyllinischen Echolaute der Flöten aus unsichtbaren Nischen hinter dem Publikum ertönen, was ihre Wirkung im Kontrast zum zauberhaft leisen Streichernebel erhöhte. Das Orakel blieb aller bohrenden Intensität wiederholter Trompetenbeschwörung zum Trotz stumm. Mit lang gedehnter Fermate über finaler Stille lieferte
Wellber das Publikum dem Gefühl existenzieller Einsamkeit aus.
Ein größerer Gegensatz zu diesem philosophischen Zeremoniell als das späte Oboenkonzert von Richard Strauss lässt sich kaum denken. Der greise Komponist hat es nach dem Zweiten Weltkrieg – das Konzertleben in Deutschland war zum Erliegen gekommen – als „Handgelenksübung eines alten Mannes“zu Papier gebracht, nachdem ihn ein junger amerikanischer Besatzungssoldat in seiner Garmischer Villa nach einem solchen Solowerk gefragt hatte. Eine sofortige Antwort war Strauss schuldig geblieben, doch schon im Februar 1946 – im selben Jahr wie Ives‘ „Question“– konnte das Stück in Zürich uraufgeführt werden.
Ungeachtet aller damals längst erfolgreichen Modernismen im Gefolge von Schönbergs und Strawinskys Neuerungen knüpfte Strauss bei seinem dreisätzigen Oboenkonzert an klassische Formmodelle an und scheute nicht vor ihrer neoromantischen Überblendung zurück. Das Ergebnis: eine lichte, unbeschwerte Partitur, die mit ihrer fast mozartisch anmutenden Verspieltheit ganz aus ihrer Zeit gefallen scheint. Für Oboisten ist der virtuose Solopart dankbares „Futter“. Ramón Ortega Quero bewältigte ihn mit phänomenaler Souveränität.
Kultivierte Phrasierung, makelloses Legatospiel, feines Piano im langsamen Satz, enorme Atem- und Lippenkondition und nahtlose Überbrückung der Register zählen zu seinen unvergleichlichen Stärken.
Anton Bruckners sechste Sinfonie entführte nach der Pause in eine gänzlich andere Klangwelt. Diese weist in ihrer Abkehr von entwickelnder Themenbearbeitung klassisch-romantischer Art überraschende Berührungspunkte mit der davon unbeleckten Haltung eines Charles Ives auf. Bruckners sinfonische Riesengebäude entstehen eher durch Reihung blockartiger Orchestergebilde. Es ist die Aufgabe des Dirigenten, sie so aneinanderzufügen, dass eine übergreifende Dramaturgie entsteht und ihre potenzielle Statik in Fluss gebracht wird.
Omer Meir Wellber erfüllte diese Aufgabe vorbildlich. Mit Ruhe hielt er den gewaltigen Tanker Brucknerscher Klangmassen auf Kurs, ließ die treibende Kraft seiner Rhythmen und Harmonien von der Leine, überführte brutale Blechattacken in stillere Gewässer satter Streichermeere. Er behielt auch die Übersicht, wenn auf die Spitze getriebene Gleichzeitigkeit von Triolen und Duolen das thematische Material bis zur Weißglut erhitzte. Danach erübrigte sich jegliche Zugabe.