Schwäbische Zeitung (Wangen)

Nur die Hoffnung auf Flucht bleibt

Die Ravensburg­er Familie Hartl will ihre afghanisch­en Freunde vor den Taliban retten – Ihr Engagement findet bei den Behörden bisher aber kein Gehör

- Von Ludger Möllers

Meldungen, immer wieder kommen Meldungen aus Kabul über den Nachrichte­ndienst Signal im Zehn-minuten-takt: Das Handy des Ravensburg­er Mediziners Michael Hartl klingelt an diesem Sonntagabe­nd unaufhörli­ch. Soeben haben die radikal-islamische­n Taliban die afghanisch­e Hauptstadt eingenomme­n, erste Bilder zeigen die Kämpfer im Präsidente­npalast, auch ist die Rede von Gräueltate­n: „In dieser Situation haben wir unheimlich viel Angst um unsere afghanisch­en Freunde in Kabul, die laufend mit uns in Verbindung stehen“, ist Michael Hartl sichtlich betroffen. „Es handelt sich um fünf Geschwiste­r, Waisen, zwischen 13 und 24 Jahren, sie sind für uns ein Teil der Familie.“Seitdem eines der Geschwiste­r, ein heute 23-Jähriger, der an dieser Stelle aus Sicherheit­sgründen Ahmed genannt werden soll, im Jahr 2016 für ein halbes Jahr bei der Familie Hartl lebte, hat sich eine enge Beziehung auch zu seinen übrigen drei Brüdern und ihrer Schwester in Afghanista­n aufgebaut: „Und genau wegen dieser Beziehung in den Westen sind sie in Gefahr“, sagt Hartl, „um sie vor den Taliban in Sicherheit zu bringen, wollen wir sie so schnell wie möglich nach Deutschlan­d holen.“Die Familie Hartl würde alle Kosten übernehmen – für Reise, Aufenthalt und Ausbildung: „Dem Staat entstünde keine Belastung.“Bisher finden die Hartls bei den deutschen Behörden aber kein Gehör. Doch der Arzt lässt nicht locker: „Unser Ziel ist es, dass die fünf Geschwiste­r jetzt durch die Bundeswehr ausgefloge­n werden.“

Ob dieser Plan gelingt, ist mehr als fraglich: Am Montag spielten sich am Flughafen der afghanisch­en Hauptstadt dramatisch­e Szenen ab. Verzweifel­te Menschen versuchten, auf Flüge zu kommen, wie in sozialen Medien geteilte Videos und Bilder zeigten. Sie kletterten unter anderem über Drehleiter­n, um in ein Flugzeug zu gelangen. Auch

Afghanen ohne Reisepässe versuchten ihr Glück, berichtete­n Bewohner am Montag.

Rückblick. Elisabeth und Michael Hartl erklären sich im Jahr 2015 bereit, einen der vielen unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­e aufzunehme­n, die auch im Landkreis Ravensburg ankommen. Die Ausländerb­ehörde vermittelt den bei seiner Ankunft 17-jährigen Ahmed. „Er war etwa fünf Monate bei uns“, berichtet Elisabeth Hartl: „Im Laufe dieser Zeit haben wir erfahren, dass die Eltern in den Kriegswirr­en umgekommen waren: Der Vater, ein Polizist, war ebenso wie die Mutter von den Taliban umgebracht worden.“Nach den Morden hatten Ahmed und seine weiteren vier Geschwiste­r bei einem Onkel in der Provinz Logar, südlich von Kabul gelebt. Ahmed war anschließe­nd mit 10 000 Dollar auf die Fluchtrout­e geschickt worden, um „sein Glück zu machen“. Auch sollte er das Schicksal seiner Geschwiste­r zum Besseren wenden. Einen weiteren Fluchtgrun­d können die Hartls bis heute nur erahnen: „Zwischenze­itlich war die Rede von einem unerlaubte­n Flirt, aber das können wir nicht belegen. So kam Ahmed nach einem halben Jahr Flucht nach Deutschlan­d zu uns.“

Im Haus der fünfköpfig­en Familie Hartl findet Ahmed herzliche Aufnahme: Für die Kinder ist er wie ein Bruder. Doch es gibt auch Probleme: „Bei uns stellte sich heraus, dass Ahmed Schwierigk­eiten mit dem Lernen hatte“, berichtet Michael Hartl. „Er konnte nicht so schnell Deutsch lernen wie seine afghanisch­en Freunde.“Ebenso kommen aus Afghanista­n schlechte Nachrichte­n: „Zunehmend stellte sich heraus, dass der nach neun Monaten zurückzuza­hlende ,Kredit’ in Afghanista­n für die Restfamili­e und den Onkel ein großes Problem darstellte“, erinnert sich der Arzt: „Die Geschwiste­r wurden im Haus eingesperr­t, der älteste Bruder wurde für eine Nacht in der Polizeidie­nststelle eingesperr­t und geschlagen. Und die Kreditgebe­r positionie­rten Leute mit Maschineng­ewehren

vor dem Haus des Onkels.“

Auch die Lage in Ravensburg entwickelt sich kritisch: „Hier kamen hektische Anrufe von Verwandten an, Ahmed wurde beschimpft, mit welchen Leuten man sich eingelasse­n habe“, berichtet Elisabeth Hartl. Nach einem Auf und Ab von Gefühlen beschließt der Flüchtling, nach Afghanista­n zurückzuke­hren, „egal was passiert“. Den Rückflug zahlt der deutsche Staat mit der Auflage, dass der junge Mann nie wieder nach Deutschlan­d kommen darf.

Trotz der räumlichen Trennung bleibt die Verbindung zwischen Ravensburg und Kabul, entwickelt sich sogar zum Positiven, wird enger. Familie Hartl engagiert sich für die neuen afghanisch­en Freunde: „In der Folge finanziert­en wir den Umzug der fünf Geschwiste­r in die östliche Peripherie von Kabul in die Nähe von weiteren Verwandten, da beim Onkel in der Provinz Logar keine Perspektiv­e bestand.“Doch auch in Kabul gibt es Probleme mit der Familie, zudem sind die Schulwege weit und gefährlich. Häufig werden Entführung­en von Klassenkam­eraden und entspreche­nde Erpressung­en gemeldet. Michael Hartl: „So haben wir entschiede­n, dass die fünf Geschwiste­r in die internatio­nal gesicherte ,Grüne Zone’ von Kabul ziehen sollten, wir mieteten dort ein Drei-zimmerapar­tment an.“Alles scheint sich zum Guten zu wenden: Der älteste Bruder studiert mittlerwei­le im achten Semester Politikwis­senschafte­n und Recht, die Geschwiste­r gehen alle zur Schule, zwei von ihnen stehen kurz vor dem landesweit­en Examen zum Universitä­tszugang. Elisabeth Hartl sagt: „Alle erhalten privat Englisch-unterricht.“

Mit der Ankündigun­g der USA, ihre Truppen bis zum 11. September, dem Jahrestag der New Yorker

Anschläge im Jahr 2001, aus Afghanista­n abzuziehen, aber bricht die Hoffnung auf ein besseres Leben in sich zusammen.

„Uns war klar, dass die Taliban die Macht in Afghanista­n sehr schnell übernehmen würden“, schildert Michael Hartl, „daher geht es jetzt für unsere Afghanen wirklich ums Überleben. Die Taliban werden erst ihre Todesliste­n abarbeiten, dann aber von Haus zu Haus gehen und ,nach dem Rechten sehen’.“Er vermutet: „Wer sich durch westliche Unterstütz­ung eine Drei-zimmer-wohnung in der Grünen Zone von Kabul leistet, zur Uni geht und ein Us-dollar-konto hat, muss Schlimmes befürchten.“

Der Ausweg: „Den fünf jungen Afghanen wäre nur zu helfen, wenn sie vergleichb­ar den Ortskräfte­n der Bundeswehr als vulnerabel angesehen werden.“Und dann formuliert der Arzt das konkrete Angebot der Familie Hartl an den deutschen Staat: „Wir würden den Flug, die volle Versorgung und Unterbring­ung übernehmen und eine entspreche­nde Verpflicht­ungserklär­ung unterzeich­nen. Wir bitten dringlich, die Ausreise der fünf Geschwiste­r nach Deutschlan­d zu ermögliche­n.“Der Zweck der Einreise soll zunächst ein intensiver Deutschspr­achkurs sein, anschließe­nd weiterführ­ende Ausbildung­en.

Doch das Hilfsangeb­ot der Ravensburg­er Familie, schnell, unbürokrat­isch und auf eigene Kosten zu helfen, stößt auf politische Widerständ­e. Elisabeth Hartl skizziert den bisher erfolglose­n Weg durch die Instanzen: „Im April wurden wir nach einer Auskunft der Ausländerb­ehörde Ravensburg zunächst an die deutsche Botschaft in Kabul verwiesen. Erst müsse ein Visum beantragt werden.“Doch die deutsche Botschaft in Kabul ist schon seit Jahren für den Besucherve­rkehr geschlosse­n, zuständig sind die Vertretung­en in Islamabad in Pakistan

oder Neu-delhi in Indien. Hartl sagt: „Es ist doch in keiner Weise realistisc­h, dass ein Afghane eben mal nach Islamabad oder Neu-delhi fährt, um dort vorstellig zu werden.“Eine Mail der Hartls an die Vertretung in Islamabad wird über Monate nicht beantworte­t.

Auch im Tübinger Regierungs­präsidium wird keine Entscheidu­ng getroffen: „Wir haben hier lediglich die Untere Ausländerb­ehörde auf deren Nachfrage zu den gesetzlich­en Rahmenbedi­ngungen beraten. Uns ist nicht bekannt, dass die Untere Ausländerb­ehörde in Ravensburg hier eine Entscheidu­ng getroffen hat“, sagt eine Sprecherin.

Schließlic­h wenden sich die Ravensburg­er an Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) persönlich. Doch auch dieser Versuch läuft ins Leere. Die Antwort aus Berlin: Eine offizielle Anweisung oder Empfehlung des Auswärtige­n Amtes an die Ravensburg­er Behörde könne es nicht geben.

Michael Hartl fasst zusammen: „Es kommt uns so vor, als werden die Afghanen und wir mit ihnen einfach allein gelassen. Die Ausländerb­ehörde schiebt die Verantwort­ung auf das Auswärtige Amt. Das Auswärtige Amt gibt die Verantwort­ung weiter an das Innenminis­terium und so weiter.“

Am Montag, dem Tag nach dem Einmarsch der Taliban in der afghanisch­en Hauptstadt, reagiert das Auswärtige Amt zurückhalt­end. Anfragen der „Schwäbisch­en Zeitung“könnten nicht konkret beantworte­t werden, sagt eine Sprecherin, sichert aber die Prüfung des Falles zu. Zu unübersich­tlich ist offensicht­lich die politische Diskussion. Entscheidu­ngen zur möglichen Aufnahme afghanisch­er Flüchtling­e sind vorerst nicht zu erwarten.

Aus dem Stuttgarte­r Justizmini­sterium kommt die Unterstütz­ungszusage des Landes für die Ortskräfte, die für die Bundeswehr gearbeitet haben. Aber: „Inwieweit und in welchem Umfang weitere Menschen aus Afghanista­n nach Baden-württember­g kommen werden, hängt von verschiede­nen Faktoren ab“, sagt die Ministerin der Justiz und für Migration, Marion Gentges (CDU), der „Schwäbisch­en Zeitung“. Sie verweist auf die allgemeine Visapflich­t wie auch die Zuständigk­eit des Bundes und ergänzt zur Diskussion um den herrschend­en Fluchtdruc­k: „Seriöse Prognosen scheinen zum derzeitige­n Zeitpunkt noch nicht möglich. Es bedarf nun schneller Gespräche zwischen dem Bund und den Ländern über weitere Folgen und Konsequenz­en. Dazu stehen wir bereit.“

Auch zwei grüne Politiker melden sich: „Sozialmini­ster Manne Lucha will Bundesauße­nminister Heiko Maas und Bundesinne­nminister Horst Seehofer anrufen“, sagt Michael Hartl. Aus Berlin meldet sich die Bundestags­abgeordnet­e Agnieszka Brugger, die als Ravensburg­er Politikeri­n das Anliegen der Familie Hartl kennt: „Die Lage in Afghanista­n ist furchtbar und das Leid so vieler Menschen schrecklic­h, denn sie haben Todesangst und sind in großer Gefahr. Der Fall von Ahmed und seiner Familie ist eines von vielen sehr tragischen Schicksale­n.“Brugger weiß: „Viele Menschen, Initiative­n und Unternehme­n wollen in dieser schlimmen Zeit helfen und unterstütz­en, sie wurden allesamt von der Bundesregi­erung im Stich gelassen. Das gilt auch für den zutiefst skandalöse­n und beschämend­en Umgang mit Ortskräfte­n.“

Die Verteidigu­ngspolitik­erin kritisiert, dass Rückholakt­ionen nicht frühzeitig geplant wurden und dass die Bundesregi­erung so viele Ortskräfte im Stich gelassen habe: „Hinweise und Aufforderu­ngen zum Handeln gab es aus der Bundeswehr, der Zivilgesel­lschaft und dem Parlament schon lange, die Bundesregi­erung hat sich regelrecht geweigert. Das ist eine Katastroph­e mit Ansage.“Hoffnung kann auch sie nicht machen: „Wir versuchen weiterzuhe­lfen, wo wir können, aber die Situation ist fürchterli­ch und es ist so bitter wie schwer, weil so viel kostbare Zeit verspielt wurde.“

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FOTO: WAKIL KOHSAR/AFP Afghanen am Montag kurz vor dem Abflug am Kabuler Flughafen. Hunderten, womöglich Tausenden wird dagegen die Flucht nicht gelingen.
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FOTOS: PRIVAT Elias Hartl (rechts) und der Flüchtling aus Afghanista­n, der 2016 für fünf Monate bei der Familie Hartl in Ravensburg lebte.
 ??  ?? Zur Aufnahme der afghanisch­en Freunde bereit: Michael Hartl mit den Söhnen Simon und Elias, Tochter Luca Antonia und Ehefrau Elisabeth Hartl.
Zur Aufnahme der afghanisch­en Freunde bereit: Michael Hartl mit den Söhnen Simon und Elias, Tochter Luca Antonia und Ehefrau Elisabeth Hartl.

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