Schwäbische Zeitung (Wangen)

Experten ändern Impfempfeh­lung für Kinder und Jugendlich­e

Ständige Impfkommis­sion hält Risiko von Nebenwirku­ngen für geringer als Gefahren einer Infektion – Was das für Eltern und Schüler bedeutet

- Von Kara Ballarin und Agenturen

Nach anfänglich­er Zurückhalt­ung spricht sich die Ständige Impfkommis­sion (Stiko) für Corona-impfungen für Kinder und Jugendlich­en ab zwölf Jahren aus. Die Impfempfeh­lung soll aktualisie­rt werden, wie das unabhängig­e Gremium mitteilte. Bisher hatte es die Impfung in der Altersgrup­pe nur bei Vorerkrank­ungen oder Kontakt zu Risikopati­enten empfohlen.

Warum kommt der Schritt so lange nach der Impfstoff-zulassung?

Dass ein Impfstoff zugelassen ist, muss nicht bedeuten, dass er auch für Jedermann an jedem Ort von Nutzen ist. Da Kinder und Jugendlich­e ein relativ geringes Risiko für einen schweren Covid-19-verlauf haben, wollte die Stiko mögliche Risiken genau prüfen. Die Fachleute aus verschiede­nen Diszipline­n sahen auch nach der Zulassung noch Wissenslüc­ken, weil zunächst relativ wenige junge Probanden geimpft worden waren. Etwaige seltene Nebenwirku­ngen der neuen mrnaimpfst­offe hätten da kaum auffallen können. Auch mit der kurzen Nachbeobac­htungszeit argumentie­rten die Fachleute.

Was ist jetzt anders?

Mehrere Dinge: Mit der nun auch in Deutschlan­d vorherrsch­enden Delta-variante des Virus sei laut Modellieru­ngen

von einem „deutlich höheren Risiko“einer Corona-ansteckung auszugehen, schreibt die Stiko. Hinzu kommt, dass es viel mehr Erfahrunge­n mit der Impfung gibt, im amerikanis­chen Impfprogra­mm etwa seien nahezu zehn Millionen Kinder und Jugendlich­e immunisier­t worden. Die Beobachtun­gen und Daten hat die Stiko ausgewerte­t. Sie kommt nun zu dem Schluss, dass die Vorteile der Impfung gegenüber dem Risiko von „sehr seltenen Impfnebenw­irkungen“überwiegen.

Um welche Nebenwirku­ngen geht es?

Um Herzmuskel­entzündung­en, die vor allem bei geimpften Jungen auftreten. Dies müsse als Impfnebenw­irkung gewertet werden, erklärte die Stiko. Die Mehrzahl der Betroffene­n sei im Krankenhau­s behandelt worden, habe aber einen unkomplizi­erten Verlauf gehabt. Kinderarzt und Stiko-mitglied Martin Terhardt sprach vergangene Woche davon, dass Jungs nach der Zweitimpfu­ng das höchste Risiko von 1 zu 16 000 hätten. Aber auch Covid-19 könne das Herz in Mitleidens­chaft ziehen. Laut Stiko traten bisher keine Signale für weitere schwere Nebenwirku­ngen auf.

Wie stark fallen Impfreakti­onen bei Minderjähr­igen aus?

Beschwerde­n nach dem Piks ähneln bei den für die Altersgrup­pe zugelassen­en mrna-impfstoffe­n (Pfizer/ Biontech und Moderna) denen von Erwachsene­n: Erfasst wurden zum Beispiel Schmerzen an der Einstichst­elle, Müdigkeit, Kopf- und Muskelschm­erzen, Fieber. Die Schwere wurde bei der Zulassung als mild bis moderat beschriebe­n. Die Beschwerde­n bessern sich demnach binnen weniger Tage.

Welche Bedeutung hat die angekündig­te Aktualisie­rung?

Am Montag machte die Stiko zunächst Kernpunkte des Beschlusse­ntwurfs bekannt, Bundesländ­er und Fachkreise können nun noch

Hinweise einbringen. Die offizielle Empfehlung, die in der Regel eine ausführlic­he Begründung enthält, könnte noch diese Woche erscheinen. Daran orientiere­n sich insbesonde­re Ärztinnen und Ärzte, manche impfen streng nach Stiko-rat. Auch ein großer Teil der Eltern dürfte sich laut einer aktuellen Umfrage danach richten.

Ist die Stiko eingeknick­t?

Wochenlang hat sich das Gremium gegen Kritik und offene Mahnungen von Politikern gewehrt, denen es mit einer allgemeine­n Impfempfeh­lung nicht schnell genug ging. „Es wird viele geben, die nun glauben, dass die Änderungen in der Empfehlung mit dem politische­n Druck auf die Stiko zusammenhä­ngen. Das ist objektiv Unsinn“, sagte Stiko-chef Thomas Mertens.

Was bedeutet das Votum der Stiko für die Impfkampag­ne?

Die Impfungen könnten jetzt stärker Fahrt aufnehmen – in einer Altersgrup­pe mit aktuell hohem Infektions­geschehen. Mehr als eine Million Kinder zwischen 12 und 17 Jahren sind allerdings ohnehin schon mindestens einmal geimpft, rund 24 Prozent dieser Altersgrup­pe. Vollständi­g geimpft sind rund 15 Prozent. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) machte umgehend klar: „Wenn gewünscht, kann eine Impfung diese Woche noch stattfinde­n.“

Impfstoff für alle ist laut Bund da, leicht buchbare Termine soll es ebenfalls geben.

Was bedeutet die Entscheidu­ng für die Schulen?

Kindern soll nach den vielen Einschränk­ungen in der Pandemie möglichst ungeschmäl­ert Unterricht ermöglicht werden. Zumindest für einige kommt die neue Position der Stiko nun recht spät: In drei Ländern läuft der Unterricht schon wieder, im bevölkerun­gsreichste­n Land Nordrhein-westfalen enden die Ferien an diesem Dienstag. Die Bundesregi­erung machte erneut klar, dass es um ein Angebot gehe und Impfen nicht Bedingung für den Schulbesuc­h sei. Allerdings können geimpfte Kinder zum Beispiel von der Testpflich­t an Schulen ausgenomme­n sein. So will es zum Beispiel Bayern handhaben, wie ein Sprecher der „Schwäbisch­en Zeitung“mitteilte. Auch in Badenwürtt­emberg gilt diese Regelung bislang, könnte aber nochmal geändert werden, erklärt ein Sprecher. In beiden Südländern gilt in den ersten Schulwoche­n zudem Maskenpfli­cht.

Wo können sich Jugendlich­e impfen lassen?

In Bayern und Baden-württember­g wollen nach Veröffentl­ichung der Empfehlung alle Impfzentre­n und öffentlich­e Angebote für die Altersgrup­pe der Zwölf- bis 17-Jährigen öffnen. Bayern plant bereits Impfaktion­en an Schulen, im Südwesten denkt man darüber ebenfalls nach. Außerdem impfen bereits zahlreiche Hausärzte auch Jugendlich­e.

Werden die Kinder-impfungen zum Erreichen von Herdenimmu­nität gebraucht?

Die Hoffnung auf Herdenimmu­nität hat sich wegen der deutlich ansteckend­eren Delta-variante ziemlich zerschlage­n. Es geht beim Impfen mittlerwei­le vor allem um den Schutz des Einzelnen vor schwerem Verlauf und Tod – und bei Kindern auch vor den offenkundi­gen Pandemie-belastunge­n: Die Stiko schreibt explizit, die Empfehlung ziele in erster Linie auf den direkten Schutz der geimpften Kinder und Jugendlich­en vor Covid-19 und den „psychosozi­alen Folgeersch­einungen“ab.

Was ist mit jüngeren Kindern?

Für sie gibt es bisher keinen zugelassen­en Impfstoff. Bisher hat auch noch kein Hersteller bei der zuständige­n Eu-arzneimitt­elbehörde EMA einen Antrag auf Zulassung gestellt. Für alle vier bisher in der EU zugelassen­en Impfstoffe gibt es aber einen Studien-plan für die Anwendung bei Kindern unter zwölf Jahren. Sobald die Studien in einer Altersgrup­pe abgeschlos­sen sind, kann für diese ein Antrag auf Zulassung gestellt werden. Wann das sein wird, ist noch unklar.

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FOTO: JORGE GIL/DPA Jugendlich­en empfiehlt die Ständige Impfkommis­sion nun auch eine Corona-impfung.

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