Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Ein Desaster, das wir selbst verursacht haben“

Der Cdu-außenexper­te Roderich Kiesewette­r erklärt, warum die Evakuierun­gen aus Afghanista­n notwendig, aber hochgefähr­lich sind

- Von Claudia Kling Von wie vielen Menschen sprechen wir eigentlich? Die Zahlen, die genannt werden, sind doch recht unterschie­dlich.

- Der Cdu-politiker Roderich Kiesewette­r fordert eine schnelle und großzügige Aufnahme von Ortskräfte­n und Mitarbeite­rn von Hilfsorgan­isationen in Afghanista­n. Er hoffe, dass wir „mit weitem Herzen und großen Aufwand“diese Menschen rausholen, sagte der Cdu-abgeordnet­e für den Wahlkreis Aalen-heidenheim im Interview. Gleichzeit­ig machte er aber auch deutlich, dass die Evakuierun­gen riskant sind. „Das kann Gefallene und Abschüsse bedeuten“, so Kiesewette­r. Der Oberst a. D. war zwischen 2006 und 2009 mehrfach dienstlich in Afghanista­n vor Ort.

Herr Kiesewette­r, haben Sie diese Entwicklun­g in Afghanista­n nach dem Abzug der internatio­nalen Truppen für möglich gehalten?

Mir war klar, dass die Taliban die Schwäche des Westens ausnutzen werden. Ich habe damit gerechnet, dass sie dieses Jahr Afghanista­n flächendec­kend übernehmen werden und Kabul fallen wird. Dass sie aber so schnell erfolgreic­h sein werden, habe ich nicht vorhergese­hen. Das hat niemand von uns geahnt.

Haben die Staaten, die in Afghanista­n engagiert waren, nicht ausreichen­d analysiert, was nach ihrem Abzug passieren könnte? Oder haben sie sich schlicht verkalkuli­ert?

Beides. Seit Jahren haben andere Abgeordnet­e und ich immer wieder eine Evaluation des Einsatzes gefordert. Das ist aber nicht geschehen. Deshalb konnte es passieren, dass wir die entscheide­nden Faktoren, die jetzt zum Erfolg der Taliban geführt haben, zum Teil selbst geschaffen haben. Wir haben eine afghanisch­e Armee ausgebilde­t, die zwar gut ausgestatt­et ist, aber kein Durchhalte­vermögen und keine politische Führung hat. Wir haben uns im Norden Afghanista­ns auf Warlords gestützt, aber nie einen richtigen Zugang zur Zivilbevöl­kerung gefunden. Das alles hätte man merken können, wenn unterhalb der politische­n Entscheidu­ngsträger eine Einrichtun­g wäre, die datenbasie­rt und faktenorie­ntiert Auslandsei­nsätze bewertet und Vorschläge zur Nachsteuer­ung macht. Wir brauchen einen Bundessich­erheitsrat, der dies leisten kann.

Die Bundesregi­erung versucht nun, möglichst viele Ortskräfte direkt aus Afghanista­n rauszuhole­n. Wie gefährlich ist das?

Soweit ich weiß, beabsichti­gt die Bundesregi­erung, die Evakuierun­g mit starkem militärisc­hem Schutz zu leisten. Alles andere wäre auch fatal. Wir müssen uns auch darauf einstellen, dass die Evakuierun­gsflüge womöglich unter Beschuss kommen. Entscheide­nd ist auch, wo wir evakuieren. Wir haben noch viele Helferinne­n und Helfer in Nordafghan­istan, in sogenannte­n Safe Houses. Die sind dort aber nicht mehr sicher. Die Frage ist, wie wir sie rausholen können. Ich befürchte, dass wir Tausende Menschen zurücklass­en müssen. Von der Bundesregi­erung erwarte ich, dass sie die Öffentlich­keit darüber zumindest informiert, wie hochgefähr­lich dieser Einsatz ist.

Wie muss man sich die Evakuierun­gen ganz praktisch vorstellen?

Es wird sicherlich einen Hauptflugh­afen für die Evakuierun­gen geben, das ist Kabul. Aber wir werden aus vielen Orten des Landes die zu Evakuieren­den mit Hubschraub­ern und Transportm­aschinen in Tiefflügen holen müssen. Sie können sich ja nicht mehr durchschla­gen, die Straßen werden von den Taliban kontrollie­rt. Das ist ein sehr robuster und gefährlich­er Einsatz, der auch Blut kosten kann. Das kann Gefallene und Abschüsse bedeuten. Unsere Soldaten werden über die Selbstvert­eidigung hinaus die Menschen schützen müssen, die ihnen anvertraut sind. Parallel brauchen wir flankieren­de Gespräche mit den Taliban, damit diese den Evakuierun­gen zustimmen.

Die Bundesregi­erung spricht von zehntausen­d Menschen mit den Kernfamili­en. Meiner Meinung müssten es aber viel mehr sein. Ich denke an die vielen Mitarbeite­r von Hilfsorgan­isationen in Afghanista­n, die nicht direkt für die Bundeswehr, das Auswärtige Amt oder für die Gesellscha­ft für internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ) gearbeitet haben. Ich hoffe, dass wir mit weitem Herzen und großen Aufwand auch diese Menschen rausholen. Wenn wir das nicht tun, wird es in jeder anderen Region der Welt schwierig werden, künftig Ortskräfte für westliche

Streitkräf­te und Entwicklun­gsorganisa­tionen zu finden. Wenn dieser Evakuierun­gseinsatz scheitert, könnte dies zum Wendepunkt für die Glaubwürdi­gkeit des Westens werden.

Wieso haben Union und SPD im Juni gegen den Antrag der Grünen gestimmt, Ortskräfte frühzeitig­er aus Afghanista­n rauszuhole­n? Ging es da ums Prinzip?

Es stimmt, der Evakuierun­gseinsatz kommt viel zu spät. Das hätten wir alles vor zwei oder drei Wochen, am besten vor drei Monaten einleiten müssen. Wir haben als Parlamenta­rier nicht verstanden, warum die Bundesregi­erung so zögerlich auf Visa, Reisepässe und andere bürokratis­che Dinge gewartet hat. Das Innenund Außenminis­terium hätten sehr viel früher handeln müssen. Aber der Grünen-antrag, nach dem Sie fragen, hätte dies auch nicht geleistet. Da ging es nur darum, die Aufnahmebe­dingungen für Ortskräfte in Deutschlan­d zu erleichter­n – aber es war kein Antrag, um die Leute aus Afghanista­n rauszuhole­n. Es nützt jetzt auch nichts, im Wahlkampf Schuld zuzuweisen. Entscheide­nd ist, dass wir im Bundestag verschlafe­n haben, wie dramatisch die Entwicklun­g in Afghanista­n ist.

Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) hat den Afghanista­neinsatz für gescheiter­t erklärt. Überrascht Sie das?

Das ist eine späte Einsicht. Bislang hat das Innenminis­terium immer mit größtem Bedenken über die Aufnahme zusätzlich­er Flüchtling­e gesprochen. Es wäre hilfreiche­r gewesen, wenn die Regierung frühzeitig das Botschafts­personal und die Konsulate vor Ort verstärkt hätte, um den Ortskräfte­n die entspreche­nden Dokumente für die Ausreise auszustell­en. Die Lehre aus diesem Debakel muss sein, dass wir für Einsätze wie in Mali oder im Irak ein Konzept entwickeln müssen, wie das einheimisc­he Personal zu schützen und im Notfall zu retten ist.

Die Ortskräfte sind nur ein kleiner Teil der afghanisch­en Bevölkerun­g, der von den Taliban bedroht ist. Was passiert mit den vielen anderen, die nicht unter einem islamistis­chen Regime leben wollen?

Aus Afghanista­n werden Millionen Menschen fliehen, und es werden Hunderttau­sende umgebracht werden. Wir werden ein Desaster erleben, das wir selbst verursacht haben, weil wir den Amerikaner­n gefolgt sind und kein eigenes europäisch­es Einsatzmot­iv hatten. Wir waren immer nur ein Anhängsel der Amerikaner. Jetzt sehen wir, dass es falsch war, dass die Europäer keinen eigenen politische­n Willen hatten, nach dem Abzug der Us-armee vor Ort zu bleiben. Für die Zukunft heißt das: Wir dürfen uns auf solche Einsätze nicht mehr einlassen, wenn absehbar ist, dass wir aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, sie zu leisten, weil uns beispielsw­eise bewaffnete Drohnen fehlen. Abgesehen davon gehört zum Erfolg auch der Aufbauwill­en in der jeweiligen Region. Das war in Afghanista­n unter den wechselnde­n Regierunge­n nicht der Fall.

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FOTO: AFP In den Straßen Kabuls patrouilli­erten am Montag die Taliban, die zuvor die Polizeista­tionen in der afghanisch­en Hauptstadt übernommen hatten.
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FOTO: OH Roderich Kiesewette­r

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