„Ein Desaster, das wir selbst verursacht haben“
Der Cdu-außenexperte Roderich Kiesewetter erklärt, warum die Evakuierungen aus Afghanistan notwendig, aber hochgefährlich sind
- Der Cdu-politiker Roderich Kiesewetter fordert eine schnelle und großzügige Aufnahme von Ortskräften und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen in Afghanistan. Er hoffe, dass wir „mit weitem Herzen und großen Aufwand“diese Menschen rausholen, sagte der Cdu-abgeordnete für den Wahlkreis Aalen-heidenheim im Interview. Gleichzeitig machte er aber auch deutlich, dass die Evakuierungen riskant sind. „Das kann Gefallene und Abschüsse bedeuten“, so Kiesewetter. Der Oberst a. D. war zwischen 2006 und 2009 mehrfach dienstlich in Afghanistan vor Ort.
Herr Kiesewetter, haben Sie diese Entwicklung in Afghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppen für möglich gehalten?
Mir war klar, dass die Taliban die Schwäche des Westens ausnutzen werden. Ich habe damit gerechnet, dass sie dieses Jahr Afghanistan flächendeckend übernehmen werden und Kabul fallen wird. Dass sie aber so schnell erfolgreich sein werden, habe ich nicht vorhergesehen. Das hat niemand von uns geahnt.
Haben die Staaten, die in Afghanistan engagiert waren, nicht ausreichend analysiert, was nach ihrem Abzug passieren könnte? Oder haben sie sich schlicht verkalkuliert?
Beides. Seit Jahren haben andere Abgeordnete und ich immer wieder eine Evaluation des Einsatzes gefordert. Das ist aber nicht geschehen. Deshalb konnte es passieren, dass wir die entscheidenden Faktoren, die jetzt zum Erfolg der Taliban geführt haben, zum Teil selbst geschaffen haben. Wir haben eine afghanische Armee ausgebildet, die zwar gut ausgestattet ist, aber kein Durchhaltevermögen und keine politische Führung hat. Wir haben uns im Norden Afghanistans auf Warlords gestützt, aber nie einen richtigen Zugang zur Zivilbevölkerung gefunden. Das alles hätte man merken können, wenn unterhalb der politischen Entscheidungsträger eine Einrichtung wäre, die datenbasiert und faktenorientiert Auslandseinsätze bewertet und Vorschläge zur Nachsteuerung macht. Wir brauchen einen Bundessicherheitsrat, der dies leisten kann.
Die Bundesregierung versucht nun, möglichst viele Ortskräfte direkt aus Afghanistan rauszuholen. Wie gefährlich ist das?
Soweit ich weiß, beabsichtigt die Bundesregierung, die Evakuierung mit starkem militärischem Schutz zu leisten. Alles andere wäre auch fatal. Wir müssen uns auch darauf einstellen, dass die Evakuierungsflüge womöglich unter Beschuss kommen. Entscheidend ist auch, wo wir evakuieren. Wir haben noch viele Helferinnen und Helfer in Nordafghanistan, in sogenannten Safe Houses. Die sind dort aber nicht mehr sicher. Die Frage ist, wie wir sie rausholen können. Ich befürchte, dass wir Tausende Menschen zurücklassen müssen. Von der Bundesregierung erwarte ich, dass sie die Öffentlichkeit darüber zumindest informiert, wie hochgefährlich dieser Einsatz ist.
Wie muss man sich die Evakuierungen ganz praktisch vorstellen?
Es wird sicherlich einen Hauptflughafen für die Evakuierungen geben, das ist Kabul. Aber wir werden aus vielen Orten des Landes die zu Evakuierenden mit Hubschraubern und Transportmaschinen in Tiefflügen holen müssen. Sie können sich ja nicht mehr durchschlagen, die Straßen werden von den Taliban kontrolliert. Das ist ein sehr robuster und gefährlicher Einsatz, der auch Blut kosten kann. Das kann Gefallene und Abschüsse bedeuten. Unsere Soldaten werden über die Selbstverteidigung hinaus die Menschen schützen müssen, die ihnen anvertraut sind. Parallel brauchen wir flankierende Gespräche mit den Taliban, damit diese den Evakuierungen zustimmen.
Die Bundesregierung spricht von zehntausend Menschen mit den Kernfamilien. Meiner Meinung müssten es aber viel mehr sein. Ich denke an die vielen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in Afghanistan, die nicht direkt für die Bundeswehr, das Auswärtige Amt oder für die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet haben. Ich hoffe, dass wir mit weitem Herzen und großen Aufwand auch diese Menschen rausholen. Wenn wir das nicht tun, wird es in jeder anderen Region der Welt schwierig werden, künftig Ortskräfte für westliche
Streitkräfte und Entwicklungsorganisationen zu finden. Wenn dieser Evakuierungseinsatz scheitert, könnte dies zum Wendepunkt für die Glaubwürdigkeit des Westens werden.
Wieso haben Union und SPD im Juni gegen den Antrag der Grünen gestimmt, Ortskräfte frühzeitiger aus Afghanistan rauszuholen? Ging es da ums Prinzip?
Es stimmt, der Evakuierungseinsatz kommt viel zu spät. Das hätten wir alles vor zwei oder drei Wochen, am besten vor drei Monaten einleiten müssen. Wir haben als Parlamentarier nicht verstanden, warum die Bundesregierung so zögerlich auf Visa, Reisepässe und andere bürokratische Dinge gewartet hat. Das Innenund Außenministerium hätten sehr viel früher handeln müssen. Aber der Grünen-antrag, nach dem Sie fragen, hätte dies auch nicht geleistet. Da ging es nur darum, die Aufnahmebedingungen für Ortskräfte in Deutschland zu erleichtern – aber es war kein Antrag, um die Leute aus Afghanistan rauszuholen. Es nützt jetzt auch nichts, im Wahlkampf Schuld zuzuweisen. Entscheidend ist, dass wir im Bundestag verschlafen haben, wie dramatisch die Entwicklung in Afghanistan ist.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat den Afghanistaneinsatz für gescheitert erklärt. Überrascht Sie das?
Das ist eine späte Einsicht. Bislang hat das Innenministerium immer mit größtem Bedenken über die Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge gesprochen. Es wäre hilfreicher gewesen, wenn die Regierung frühzeitig das Botschaftspersonal und die Konsulate vor Ort verstärkt hätte, um den Ortskräften die entsprechenden Dokumente für die Ausreise auszustellen. Die Lehre aus diesem Debakel muss sein, dass wir für Einsätze wie in Mali oder im Irak ein Konzept entwickeln müssen, wie das einheimische Personal zu schützen und im Notfall zu retten ist.
Die Ortskräfte sind nur ein kleiner Teil der afghanischen Bevölkerung, der von den Taliban bedroht ist. Was passiert mit den vielen anderen, die nicht unter einem islamistischen Regime leben wollen?
Aus Afghanistan werden Millionen Menschen fliehen, und es werden Hunderttausende umgebracht werden. Wir werden ein Desaster erleben, das wir selbst verursacht haben, weil wir den Amerikanern gefolgt sind und kein eigenes europäisches Einsatzmotiv hatten. Wir waren immer nur ein Anhängsel der Amerikaner. Jetzt sehen wir, dass es falsch war, dass die Europäer keinen eigenen politischen Willen hatten, nach dem Abzug der Us-armee vor Ort zu bleiben. Für die Zukunft heißt das: Wir dürfen uns auf solche Einsätze nicht mehr einlassen, wenn absehbar ist, dass wir aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, sie zu leisten, weil uns beispielsweise bewaffnete Drohnen fehlen. Abgesehen davon gehört zum Erfolg auch der Aufbauwillen in der jeweiligen Region. Das war in Afghanistan unter den wechselnden Regierungen nicht der Fall.