Auf dem Weg zur Scharia
Taliban verwandeln Afghanistan in einen islamistischen Staat – Bundesregierung will 10 000 Menschen ausfliegen
- Nach der Einnahme der afghanischen Hauptstadt Kabul durch die radikalislamischen Taliban ist der Flughafen der Stadt für viele Menschen die letzte Möglichkeit, das Land zu verlassen. Wie geht es weiter mit der Rettungsaktion von Deutschen, ihren Helfern – und mit Afghanistan? Ein Überblick.
Können die Deutschen und ihre Helfer aus Afghanistan gerettet werden?
Zur Rettung deutscher Staatsbürger hat die Bundesregierung am Montag drei Maschinen der Bundeswehr in die Region geschickt. Mittels einer Luftbrücke sollen die Deutschen zunächst nach Taschkent in Usbekistan und von dort mit zivilen Maschinen nach Deutschland ausgeflogen werden. 40 Mitarbeiter der Botschaft waren bereits am Wochenende mit einer amerikanischen Maschine in die katarische Hauptstadt Doha ausgereist. Die Sicherheit der Deutschen sowie ihrer Mitarbeiter und Helfer habe „oberste Priorität“, sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD). Am Flughafen in Kabul herrschten am Montag jedoch chaotische Zustände.
Wie viele Menschen will die Bundesregierung aus Afghanistan herausholen?
Nach Angaben der Bundesregierung geht es noch um eine „hohe zweistellige Zahl“von Deutschen sowie mehrere Hundert ehemalige sogenannte Ortskräfte und deren Familien, die ausgeflogen werden sollen, weil sie sonst der Rache der Taliban ausgesetzt wären. Die meisten davon befänden sich in der Hauptstadt Kabul. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte in einer Tagung des Cdu-vorstands genauere Zahlen. Demnach geht die Bundesregierung von 2500 Ortskräften in Afghanistan aus. 600 davon seien möglicherweise bereits ausgereist. Wie es aus Kreisen der Bundesregierung weiter hieß, bemühe man sich, auch 2000 Menschen, mit denen man in Demokratieund Menschenrechtsfragen zusammengearbeitet habe, sowie deren Familien außer Landes zu bringen. Insgesamt rechnet die Bundesregierung mit rund 10 000 Menschen, die sie vor dem Zugriff der Taliban retten möchte. Knapp 1900 wurden nach Angaben des Auswärtigen Amtes in den vergangenen Wochen bereits außer Landes gebracht.
Was wollen die Taliban in Afghanistan?
Die Radikalislamisten haben angekündigt, Afghanistan in einen Staat zu verwandeln, in dem das islamische Recht, also die Scharia, gilt. In dieser sind Strafen wie das Abhacken von Händen bei Diebstahl oder das Steinigen untreuer Ehefrauen erlaubt. Ein internationales Kalifat, wie es die Terrorgruppe Islamischer Staat ausgerufen hatte, streben die Taliban bislang nicht an. Zudem haben sie den USA in ihrem Abkommen von 2020 zugesagt, keine terroristischen Gruppen mehr beherbergen zu wollen. Genau dies, die Gewährung von Unterschlupf für die Al-kaida-planer der Anschläge vom 11. September 2001, war vor zwei Jahrzehnten die Ursache für den Einmarsch der westlichen Koalition in das Land.
Wieso konnten die Taliban das Land binnen so kurzer Zeit nach dem Abzug der internationalen Truppen überrennen?
Die widerstandslose Übergabe des Landes an die Taliban – selbst Präsident Aschraf Ghani floh am Sonntag ins usbekische Exil – nagt erkennbar am Selbstbewusstsein der internationalen Koalition. „Eine Bilanz wird gemeinsam zu ziehen sein, ehrlich und auch kritisch“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag. Dabei müsse auch bewertet werden, warum die afghanische Armee ihren Widerstand so schnell aufgegeben habe.
Nach bisherigen Zahlen wurden 300 000 afghanische Sicherheitskräfte von der westlichen Koalition ausgebildet. Sie standen einer Gruppe schlecht ausgerüsteter Taliban gegenüber, deren Stärke Us-präsident Joe Biden erst kürzlich auf 75 000 Mann schätzte. Beobachter machen für das problemlose Überlaufen neben der schlechten Bezahlung der Soldaten auch die grassierende Korruption sowie die mangelnde Identifikation der Armee mit ihrer Regierung verantwortlich.
Werden nun viele Menschen Afghanistan verlassen?
Schätzungen des Un-flüchtlingshilfswerks UNHCR zufolge sind in diesem Jahr rund 400 000 der 38 Millionen Afghanen innerhalb des eigenen Landes vertrieben worden. Von den Grenzen in den Nachbarländern Pakistan, Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und China wurden bereits Grenzübertritte gemeldet. In Europa wächst die Sorge vor einem neuen Syrien mit Hunderttausenden Menschen, die nach Europa kommen könnten.
„Die Staatengemeinschaft muss jetzt alles dafür tun, die Nachbarländer in die Lage zu versetzen, Schutzbedürftige aufzunehmen und eine humanitäre Versorgung aufzubauen“, erklärte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-mauz. Der Afghanistanexperte Thomas Ruttig betonte, humanitäre Hilfe müsse auch im Land selbst „unabhängig von politischen Erwägungen geleistet werden“. Am Mittwoch wollen die Eu-innenminister über das weitere Vorgehen in Fragen der Migration beraten. „Das Ziel muss sein, eine Flüchtlingswelle wie 2015 aus Syrien zu verhindern“, warnte FDP-CHEF Lindner. Er forderte, „umgehend einen Sondergipfel der Europäischen Union einzuberufen“.