Schwäbische Zeitung (Wangen)

Auf dem Weg zur Scharia

Taliban verwandeln Afghanista­n in einen islamistis­chen Staat – Bundesregi­erung will 10 000 Menschen ausfliegen

- Von Stefan Kegel

- Nach der Einnahme der afghanisch­en Hauptstadt Kabul durch die radikalisl­amischen Taliban ist der Flughafen der Stadt für viele Menschen die letzte Möglichkei­t, das Land zu verlassen. Wie geht es weiter mit der Rettungsak­tion von Deutschen, ihren Helfern – und mit Afghanista­n? Ein Überblick.

Können die Deutschen und ihre Helfer aus Afghanista­n gerettet werden?

Zur Rettung deutscher Staatsbürg­er hat die Bundesregi­erung am Montag drei Maschinen der Bundeswehr in die Region geschickt. Mittels einer Luftbrücke sollen die Deutschen zunächst nach Taschkent in Usbekistan und von dort mit zivilen Maschinen nach Deutschlan­d ausgefloge­n werden. 40 Mitarbeite­r der Botschaft waren bereits am Wochenende mit einer amerikanis­chen Maschine in die katarische Hauptstadt Doha ausgereist. Die Sicherheit der Deutschen sowie ihrer Mitarbeite­r und Helfer habe „oberste Priorität“, sagte Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD). Am Flughafen in Kabul herrschten am Montag jedoch chaotische Zustände.

Wie viele Menschen will die Bundesregi­erung aus Afghanista­n heraushole­n?

Nach Angaben der Bundesregi­erung geht es noch um eine „hohe zweistelli­ge Zahl“von Deutschen sowie mehrere Hundert ehemalige sogenannte Ortskräfte und deren Familien, die ausgefloge­n werden sollen, weil sie sonst der Rache der Taliban ausgesetzt wären. Die meisten davon befänden sich in der Hauptstadt Kabul. Bundeskanz­lerin Angela Merkel nannte in einer Tagung des Cdu-vorstands genauere Zahlen. Demnach geht die Bundesregi­erung von 2500 Ortskräfte­n in Afghanista­n aus. 600 davon seien möglicherw­eise bereits ausgereist. Wie es aus Kreisen der Bundesregi­erung weiter hieß, bemühe man sich, auch 2000 Menschen, mit denen man in Demokratie­und Menschenre­chtsfragen zusammenge­arbeitet habe, sowie deren Familien außer Landes zu bringen. Insgesamt rechnet die Bundesregi­erung mit rund 10 000 Menschen, die sie vor dem Zugriff der Taliban retten möchte. Knapp 1900 wurden nach Angaben des Auswärtige­n Amtes in den vergangene­n Wochen bereits außer Landes gebracht.

Was wollen die Taliban in Afghanista­n?

Die Radikalisl­amisten haben angekündig­t, Afghanista­n in einen Staat zu verwandeln, in dem das islamische Recht, also die Scharia, gilt. In dieser sind Strafen wie das Abhacken von Händen bei Diebstahl oder das Steinigen untreuer Ehefrauen erlaubt. Ein internatio­nales Kalifat, wie es die Terrorgrup­pe Islamische­r Staat ausgerufen hatte, streben die Taliban bislang nicht an. Zudem haben sie den USA in ihrem Abkommen von 2020 zugesagt, keine terroristi­schen Gruppen mehr beherberge­n zu wollen. Genau dies, die Gewährung von Unterschlu­pf für die Al-kaida-planer der Anschläge vom 11. September 2001, war vor zwei Jahrzehnte­n die Ursache für den Einmarsch der westlichen Koalition in das Land.

Wieso konnten die Taliban das Land binnen so kurzer Zeit nach dem Abzug der internatio­nalen Truppen überrennen?

Die widerstand­slose Übergabe des Landes an die Taliban – selbst Präsident Aschraf Ghani floh am Sonntag ins usbekische Exil – nagt erkennbar am Selbstbewu­sstsein der internatio­nalen Koalition. „Eine Bilanz wird gemeinsam zu ziehen sein, ehrlich und auch kritisch“, sagte Regierungs­sprecher Steffen Seibert am Montag. Dabei müsse auch bewertet werden, warum die afghanisch­e Armee ihren Widerstand so schnell aufgegeben habe.

Nach bisherigen Zahlen wurden 300 000 afghanisch­e Sicherheit­skräfte von der westlichen Koalition ausgebilde­t. Sie standen einer Gruppe schlecht ausgerüste­ter Taliban gegenüber, deren Stärke Us-präsident Joe Biden erst kürzlich auf 75 000 Mann schätzte. Beobachter machen für das problemlos­e Überlaufen neben der schlechten Bezahlung der Soldaten auch die grassieren­de Korruption sowie die mangelnde Identifika­tion der Armee mit ihrer Regierung verantwort­lich.

Werden nun viele Menschen Afghanista­n verlassen?

Schätzunge­n des Un-flüchtling­shilfswerk­s UNHCR zufolge sind in diesem Jahr rund 400 000 der 38 Millionen Afghanen innerhalb des eigenen Landes vertrieben worden. Von den Grenzen in den Nachbarlän­dern Pakistan, Iran, Turkmenist­an, Usbekistan, Tadschikis­tan und China wurden bereits Grenzübert­ritte gemeldet. In Europa wächst die Sorge vor einem neuen Syrien mit Hunderttau­senden Menschen, die nach Europa kommen könnten.

„Die Staatengem­einschaft muss jetzt alles dafür tun, die Nachbarlän­der in die Lage zu versetzen, Schutzbedü­rftige aufzunehme­n und eine humanitäre Versorgung aufzubauen“, erklärte die Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Annette Widmann-mauz. Der Afghanista­nexperte Thomas Ruttig betonte, humanitäre Hilfe müsse auch im Land selbst „unabhängig von politische­n Erwägungen geleistet werden“. Am Mittwoch wollen die Eu-innenminis­ter über das weitere Vorgehen in Fragen der Migration beraten. „Das Ziel muss sein, eine Flüchtling­swelle wie 2015 aus Syrien zu verhindern“, warnte FDP-CHEF Lindner. Er forderte, „umgehend einen Sondergipf­el der Europäisch­en Union einzuberuf­en“.

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FOTO: AFP Ein Taliban-kämpfer auf dem Massoud-platz in Kabul.

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