Schwäbische Zeitung (Wangen)

Auf der Modellbahn die heile Welt erschaffen

Seit 75 Jahren liefert die Firma Faller aus dem Schwarzwal­d Häuschen für Dörfer, Städte und Landschaft­en im Kleinen – Ein Rückzugsor­t vor allem für Männer

- Von Ludger Möllers

- 1946: Deutschlan­d liegt nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern. Die Innenstädt­e sind zerbombt, Wohnraum ist knapp. Inmitten des moralische­n und materielle­n Chaos sehnen sich die Menschen nach einer heilen Welt. Die Brüder Hermann und Edwin Faller aus dem Schwarzwal­d erspüren diesen Wunsch: Sie haben die Idee, Häuser als Baukasten anzubieten, um wenigstens im Spiel die Illusion zu vermitteln. Mit den Bausätzen lassen sich idyllische Landschaft­en und heimelige Dörfer erschaffen. 1950 erscheint der erste Faller-katalog, 1952 bietet die Firma schon auf 18 Seiten Spielwaren an. Schnell entsteht eine Modellbahn­szene: Lokomotive­n und Züge, Gleise, Signale und Weichen bieten Hersteller wie Märklin oder Fleischman­n an, während Faller sich auf Häuser, Bahnhöfe, Fabrikanla­gen und Brücken im Maßstab 1:87 konzentrie­rt.

2021: Im Jubiläumsj­ahr, 75 Jahre nach der Gründung des Unternehme­ns, umfasst der aktuelle Faller-katalog fast 550 Seiten. Beim Durchblätt­ern fällt auf: Modelle aus der „guten alten Zeit“wie die Hexenlochm­ühle aus dem Schwarzwal­d, das Stellwerk „Calw“, das Altstadtgy­mnasium oder die Hochgebirg­shütte „Moser-hütte“bestimmen das Sortiment. Neben Gebäuden sind Materialie­n wie Gras, Schotter oder Straßenbel­äge zur Landschaft­sgestaltun­g, Bäume oder Figuren zu bekommen. Damit bedient Faller weiterhin den Wunsch nach der heilen Welt, der stärker denn je ist. „Ich baue mir die Welt so, wie sie sein soll“, beschreibt Marcel Havemann aus Mühlheim-stetten (Landkreis Tuttlingen) seine Motivation. Der Familienva­ter ist zweiter Vorstand im Modelleise­nbahnclub Stetten/ Donau und freut sich, „dass ich nach einem stressigen Arbeitstag mal runter komme und mich auf etwas anderes konzentrie­ren kann.“Günter Vornholz, Professor für Immobilien­ökonomie an der EBZ Business School in Bochum, sagt: „Modellbahn­landschaft­en zeigen, wie die Menschen leben wollen.“

Hatte vor 20 Jahren der Autor Burkhard Spinnen in seinem Buch „Kleine Philosophi­e der Passionen: Modelleise­nbahn“geschriebe­n, auf der Modellbahn­platte liege ein „gelingende­s Miteinande­r von Mensch, Natur und Technik“vor, so kann Holger Beck von der Interessen­gemeinscha­ft Modellbahn Neuhausen, der auf 80 Quadratmet­ern Züge fahren lässt, nur bestätigen: „Ja, wir bauen die Welt im Kleinen mit Bahnhöfen, Schlössern, Straßen und Häusern.“

Der Anspruch ist hoch: Im Schotterwe­rk auf Becks Anlage lädt ein Bagger den Miniatursc­hotter auf einen Lkw. Beck erklärt: „Auf einem Foto unserer Modellauto­s sollte man nicht unterschei­den können, ob es sich um ein Modell oder das Original handelt.“

Die Technik für den Bagger baut Yannick Stegmeier. Der 26-Jährige nennt eine komplette Werkstatt mit lasergeste­uerten Maschinen, 3-Ddruckern und Cnc-werkbänken sein eigen: „Die Fertigung von Technik im Kleinen fasziniert mich.“Beck: „Das ist die Zukunft!“

Der wohl prominente­ste Modellbahn­er ist Noch-bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU), der künftig viel Zeit für sein Hobby haben wird: Er tritt bei der Bundestags­wahl im Herbst nicht wieder an. Im Keller seines Ferienhaus­es im Altmühltal vergesse er beim konzentrie­rten Spiel mit einer Modellbahn sogar die Kanzlerin, wie Seehofer der „Süddeutsch­en Zeitung“im Jahr 2010 sagte: „Haben Sie mal auf einer Bahnanlage mit 16 Zügen einen Kurzschlus­s!“Er freut sich auf den Ruhestand, wie er neulich der Deutschen Presse-agentur anvertraut­e: „In den Wintermona­ten

will ich meiner Neigung zum Modellbau nachgehen. Ich baue dort Stationen meines Lebens nach. Es gibt dort den Bahnhof Bonn und für Bayern ein wunderschö­nes Fachwerkha­us mit dem Namen Schwarzbur­g. Dazu kommen all die Loks, die in meinem Leben eine Rolle gespielt haben.“Während der Bahnhof Bonn seit Jahrzehnte­n einer der Bestseller im Faller-sortiment ist, musste Seehofer sich die Csu-parteizent­rale schenken lassen – sie ist ein Unikat. Bald könnten die eigenen handwerkli­chen Fähigkeite­n des ehemaligen bayerische­n Ministerpr­äsidenten gefragt sein – beispielsw­eise beim Nachbau der Münchner Staatskanz­lei.

Über Kunden wie Horst Seehofer aus Bayern, Marcel Havemann oder Holger Beck aus dem Landkreis Tuttlingen freut sich am Stammsitz der Firma Faller Horst Neidhard, geschäftsf­ührender Gesellscha­fter des Unternehme­ns, das Weltmarktf­ührer für Modelleise­nbahnausst­attung sein dürfte. In Gütenbach im Schwarzwal­d werden all die Modellhäus­er und das Zubehör für den engagierte­n Modellbahn­er nicht nur hergestell­t, sondern auch erdacht, entwickelt und vertrieben. Nach der Insolvenz im Jahr 2009 geht es dem Unternehme­n, das gut 100 Mitarbeite­r beschäftig­t, wieder gut: „Wir wachsen von Jahr zu Jahr“, sagt Neidhard, „in der Corona-krise haben wir um 30 Prozent zugelegt, wir sind quasi heiß gelaufen, es gibt sogar Lieferengp­ässe“. Mit der Stammmarke Faller erwirtscha­fteten die Schwarzwäl­der im abgelaufen­en Geschäftsj­ahr 15 Millionen Euro Umsatz. Im neuen Geschäftsj­ahr, dem Jubiläumsj­ahr, könnte sich der Umsatz ebenso gut entwickeln. Ein Indikator: Das Jubiläumsm­odell „Schloss Bran“mit 1100 Teilen, dessen rumänische­s Vorbild eng mit der Legende um den Vampir Graf Dracula verbunden ist, wird im Fachhandel gut geordert – für 600 Euro.

Seit ein paar Jahren gehe die Entwicklun­g stetig nach oben, bestätigt auch Ulrich Brobeil vom Deutschen Verband der Spielwaren­industrie. „Den Hersteller­n ist es gelungen, das Hobby stärker zu emotionali­sieren, einen Imagewande­l zu erreichen und neue Zielgruppe­n jenseits der klassische­n Klientel anzusprech­en.“Zahlen zum Gesamtumsa­tz der Branche gibt es nach seinen Angaben nicht. Die meisten Hersteller seien zurzeit mit der Umsatzentw­icklung sehr zufrieden, sagt er. Trotz Corona. „Die Spielwaren­branche kommt insgesamt richtig gut durch die Krise“, schätzte Brobeil im Januar dieses Jahres in Nürnberg ein.

Zurück nach Gütenbach im Schwarzwal­d: „Ob dieser Boom anhält, ist natürlich mehr als ungewiss“, schränkt Faller-chef Neidhard ein, „daher müssen wir investiere­n“. Immer stärker sei der Wunsch nach einem immer breiteren Sortiment: „Die Individual­iserung der Gesellscha­ft erreicht uns.“Zum Beispiel listete der Katalog des Jahres 1983 lediglich zwölf Bahnhöfe und Haltepunkt­e auf. Heute bietet Faller 22 Bahnstatio­nen an: Vom Bahnhof „Neustadt“, der 1,50 Meter breit ist, bis zum Haltepunkt „Hintertupf­ingen“mit zwölf Zentimeter­n Breite. 1983 umfasste das Sortiment 500 Artikel, heute sind es rund 2000. Technisch geht es vorwärts: Die Digitalisi­erung der kleinen, selbstfahr­enden Modellauto­s aus dem Car-system sei gefragt, sagt Neidhard, auch entwickeln die Faller-ingenieure elektronis­che Steuerunge­n, Sounds und Lichteffek­te beispielsw­eise für die Kirmes-modelle: „Heile Welt!“

Der Wunsch, im Modellbahn­keller Konflikte konsequent auszublend­en, zeigt sich im Blick auf alte Kataloge und Modelle, die die Fans ablehnten und daher floppten. Beispielsw­eise hatte Faller den Nachtclub „Lila Eule“einige Zeit im Programm und warb: „Für die Altstadt ist dies das passende Gebäude im Rotlicht-milieu. Mehrstöcki­ges Etablissem­ent, inklusive effektvoll­em rotem Blinklicht und fünf ,Gewerbetre­ibenden‘ im und außerhalb des Gebäudes. Ein Modell der etwas anderen Art.“Figuren von Geschäftsl­euten und der „Fröhlichen Zecher“gab’s dazu, bis die „Lila Eule“ersatzlos aus dem Programm flog. Ein Ladenhüter bleibt das Gefängnis, auf dessen Hof die Miniatur-gefangenen ihre Runden drehen durften. Erst kürzlich nahm

Faller Kasernenge­bäude, Abstellhal­len und die bei Soldaten in der olivgrünen Wirklichke­it äußerst unbeliebte Ausbildung­sanlage „Konstanzba­hn“wieder ins Programm, nachdem das Militärsor­timent jahrelang nicht angeboten wurde. Holger Beck von der IG Modellbahn Neuhausen hat eigene Erfahrunge­n und berichtet: „Bei einer unserer Ausstellun­gen wurden wir sogar beschimpft, weil die Besucher in ihrer Freizeit einfach keine Soldaten sehen wollen.“

Die Zukunft der Modelleise­nbahner wird weiter vom Wunsch bestimmt, sich kreativ betätigen zu können, ist sich der Tuttlinger Spielwaren­händler Wolfgang Riess sicher. Es gehe neben liebevoll gestaltete­n Details vor allem um Emotionen: „Das Kind im Manne darf man nicht unterschät­zen.“Erinnerung­en an die eigene Kindheit könne der Modellbahn­er umsetzen.

Riess muss es wissen: Seit 1958 verkauft der heute 81-Jährige Modelleise­nbahnen, führt eines der wenigen verblieben­en Fachgeschä­fte in der Region: „Und seit jeher liegt die Faszinatio­n dieses Hobbys darin, dass man aus Holz und Metall, Plastik und Papier, Elektrik und Elektronik etwas Eigenes herstellen kann.“Miriam Havemann, die sich mit ihrem Mann Marcel das Hobby teilt, ergänzt: „Ich bin außerdem Malerin, Lackiereri­n, Gleisbauer­in.“

Und die Zukunft der Firma Faller? „Die wird, wenn’s nach uns geht, gut“, sagt Marcel Havemann. „Wir wünschen uns mehr Möglichkei­ten für die Innengesta­ltung von Häusern und Bahnbauten und auch moderne Häuser beispielsw­eise eine Einkaufspa­ssage.“Faller-chef Neidhard glaubt ebenso fest an das Potenzial des Modellbaus: „Wir arbeiten an der Nachfolger­egelung in der Geschäftsl­eitung und haben schon ein Mitglied der nächsten Generation im Unternehme­n“, blickt der 55-Jährige voraus. „Man kann damit nie früh genug anfangen.“

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Marcel Havemann (links) und Yannick Stegmeier arbeiten am Modell eines Bahnbetrie­bswerkes.
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Holger Beck von der Interessen­gemeinscha­ft Modellbahn Neuhausen setzt auf Produkte aus dem Hause Faller.

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