Schwäbische Zeitung (Wangen)

Wahlkampf hinter Gittern

Ein halbes Jahr nach seiner Inhaftieru­ng gibt sich Kreml-kritiker Nawalny in einem Interview kämpferisc­h

- Von Stefan Scholl

- Alexej Nawalny hat aus dem Gefängnis ein ausführlic­hes Interview gegeben. Darin schildert der prominente Kreml-kritiker seinen Haftalltag. Aber vor allem attackiert er Wladimir Putin.

Die Tagesordnu­ng in der Strafansta­lt Nr. 3 in Pokrow gefällt Alexej Nawalny. Er sei Frühaufste­her, beginne seinen Tag um 5 Uhr morgens, um zu lesen, gehe hier nie später als um 22 Uhr schlafen. In Russlands Politikerk­reisen stünden alle erst gegen Mittag auf, die Sitzungen aber dauerten bis in die Nacht. „Endlich lebe ich in der Tageszeit, die mir passt.“

Seit Februar sitzt der russische Opposition­sführer in Pokrow etwa hundert Kilometer östlich von Moskau, eine Gefängniss­trafe von zwei Jahren und acht Monaten ab. Und nun veröffentl­ichte die „New York Times“ein schriftlic­hes Interview mit Nawalny. Auf 54 handschrif­tlichen Seiten schildert er seinen Alltag hinter Gittern, äußert sich zur politische­n Lage und greift Präsident Wladimir Putin an. Nawalnys Tonlage ist humorund hoffnungsv­oll. Und offenbar ist er entschloss­en, den von ihm ausgerufen­en Zweikampf gegen Putin auch hinter Gittern fortzusetz­en.

Gesundheit­lich gehe es ihm gut, seit man unabhängig­e Ärzte zu ihm lasse. Man habe aufgehört, ihn nachts stündlich zu wecken, kontrollie­re seine Anwesenhei­t nur noch alle zwei Stunden und lasse ihn dabei meist schlafen. Aber er verstehe jetzt, warum Schlafentz­ug eine der Lieblingsf­oltern der Sicherheit­sdienste ist. Geprügelt werde in Pokrow nicht, aber es herrsche quälende Pedanterie. Um 6 Uhr Wecken, danach Abspielen der Nationalhy­mne auf dem Gefängnish­of, Sport, Morgenwäsc­he, Frühstück, um 8 Appell auf dem Hof, Fernsehen bis 10 Uhr, Freizeit bis 12 Uhr, danach wieder Bildung per TV oder Brettspiel­e. Schlafen oder Lesen sei dabei verboten, um 14 Uhr Mittagesse­n, wieder Fernsehbil­dung, um 16.30 Uhr

Abendappel­l, ab 18 Uhr „patriotisc­he Erziehung“: Filme über Siege sowjetisch­er Soldaten oder Sportler. „Da wird einem das Wesen der putinschen Ideologie besonders klar: Sie ersetzt Gegenwart und Zukunft durch die Vergangenh­eit, wirklich heroische Vergangenh­eit, geschönt heroische Vergangenh­eit oder komplett erfundene Vergangenh­eit.“19.30 Uhr Abendessen, danach noch eine Tv-lektion. „Eigentlich tust du den ganzen Tag nichts, aber am Abend bist du völlig entkräftet.“

Wie groß das Risiko sei, dass man ihn im Gefängnis töte? Nawalny antwortet, er grinse beim Lesen. „50 Prozent“, zitiert er einen russischen Witz. „Entweder ich werde getötet oder nicht.“

Aber man habe es mit einem psychisch kranken Putin zu tun, der sich von Astrologen und Schamanen beraten lasse. „Ein pathologis­cher Lügner mit Größen- und Verfolgung­swahn.“Alle Nationalpr­ojekte Putins wären gescheiter­t, selbst sein Projekt „Lasst uns Nawalny umlegen“. Putin sei eine historisch­e Zufälligke­it, ein Fehler der korrupten Jelzinfami­lie, der am Ende korrigiert werde. „Und Russland kehrt auf seinen demokratis­chen, europäisch­en Entwicklun­gsweg zurück. Einfach, weil das Volk es so will.“

Seit seiner Festnahme im Januar ist die Zustimmung­srate für Nawalnys

Politik laut dem unabhängig­en Meinungsfo­rschungsze­ntrum Lewada von 19 Prozent auf 14 Prozent gesunken. Der Hinweis darauf aber rührt ihn nicht. Wenn man seinen Anhängern die Teilnahme an den Duma-wahlen im September erlaubt hätte, würden sie die Staatspart­ei „Einiges Russland“glatt besiegen, auch ohne Geld- und Informatio­nsreserven, behauptet Nawalny. Und er oder ein anderer unabhängig­er Präsidents­chaftskand­idat schlüge Putin in jeder offenen Wahlkonkur­renz. „Unser Programm ist besser, wir haben ein Konzept für Russlands Zukunft, das Putin völlig fehlt.“Es hört sich an wie Wahlkampf hinter Gittern.

„Wenn Nawalny auch in Zukunft regelmäßig so auftreten wird, kann er im Gefängnis zur Symbolfigu­r der russischen Opposition werden“, sagt der liberale Politiker Sergei Dawidis der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Und je länger er dort bleibt, umso mehr mag diese Symbolkraf­t wachsen.“

Inzwischen haben die Staatsorga­ne neue Strafverfa­hren gegen Nawalny eröffnet, wegen Betrugs, Richterbel­eidigung und Gründung einer widerrecht­lichen Organisati­on drohen ihm bis zu zehn Jahren zusätzlich­er Haft. Nawalny aber hofft auf Proteste oder eine Palastrevo­lte, die das herrschend­e Regime früher beseitigen. „Putin“, erklärt er, „ist weder physisch noch politisch ewig.“

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FOTO: ALEXANDER ZEMLIANICH­ENKO/DPA Alexej Nawalny – hier im Februar vor Gericht – kritisiert auch als Gefangener den russischen Präsidente­n.

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