Schwäbische Zeitung (Wangen)

Krebs ist kein Todesurtei­l mehr

Ein Tag in der Onkologie am Ravensburg­er Elisabethe­n-krankenhau­s

- Von Annette Vincenz

- Keine andere Diagnose ist für Patienten so niederschm­etternd wie Krebs. Schließlic­h kennt fast jeder jemanden, der an einem bösartigen Tumor gestorben ist. Onkologie, so denkt man, muss das traurigste Fachgebiet der Medizin sein, denn fast die Hälfte der anvertraut­en Menschen stirbt. „Aber das ist hier kein Tal der Tränen“, beteuert Gerhard Fischer. Der 50-Jährige promoviert­e Facharzt für Innere Medizin, Onkologie und Palliativm­edizin leitet das Onkologisc­he Zentrum am Ravensburg­er Elisabethe­n-krankenhau­s. Die „Schwäbisch­e Zeitung“hat ihn einen Tag lang bei der Arbeit begleitet.

Die Frage, warum er sich ausgerechn­et Onkologie als Fachdiszip­lin ausgesucht hat, bekommt Gerhard Fischer oft zu hören. Zunächst sei da die wissenscha­ftliche Neugier gewesen: „Die Frage: Wie entsteht Krebs, und wie kann man ihn heilen?“Über die Forschung sei in ihm aber dann auch der Wunsch gereift, direkt als Arzt mit Patienten zu arbeiten. „Das ist eine sehr befriedige­nde Tätigkeit, ein dankbares Feld der Medizin. Man knüpft enge Kontakte zu Menschen, die in einer existenzie­ll bedrohlich­en Situation sind, und begleitet sie oft über Jahre.“Trotz aller Erfahrung sei er dennoch auch nach 24 Jahren im Beruf manchmal traurig und sprachlos, wenn er seinen Patienten schlechte Nachrichte­n überbringe­n muss. Aber dann kommen wieder die schönen Momente. Etwa, wenn er einer jungen Mutter sagen kann, dass ihr Krebs geheilt ist und keine Metastasen gefunden wurden.

2000 Menschen im Kreis Ravensburg erkranken statistisc­h gesehen jedes Jahr neu an Krebs. Tendenz steigend. Durch Vorsorgeun­tersuchung­en wie Mammografi­e oder Darmspiege­lung würden die Erkrankung­en heute aber häufig in einem früheren Stadium erkannt, sodass Krebs keinem Todesurtei­l mehr gleichkomm­t. „Viele denken ja: Erst kommt der Chirurg, dann die nebenwirku­ngsreiche Chemothera­pie, und dann stirbt man trotzdem“, nennt Fischer ein häufiges Vorurteil seiner Patienten. „Aber wir können mittlerwei­le 50 Prozent heilen oder in eine chronische Situation bringen, in der der Krebs in Schach gehalten wird.“Der Tag beginnt dort, wo das nicht gelungen ist. Eigentlich ein schöner Ort. Die Tisch- und Stuhlgrupp­en sind durch große Stellwände mit Strandszen­en oder Sonnenlich­t, das durch Bäume fällt, voneinande­r abgetrennt. Am Fenster, durch das man die Ravensburg­er Türme sieht, steht ein Klavier. Daneben ein Zimmerbrun­nen. In einer Schale liegen Holzsterne. Jeder für einen Menschen, der hier seine letzten Tage verbracht hat. Auf der Palliativs­tation liegen die Schwerstkr­anken, die kaum noch Hoffnung haben, ihren Tumor zu besiegen. Das Wort „austherapi­ert“mag Fischer in dem Zusammenha­ng nicht hören. „Austherapi­ert ist ein Mensch nie.“Auf der Palliativs­tation stehe aber nicht mehr der unheilbare Tumor im Mittelpunk­t, sondern die Symptome des Patienten. Diese werden gelindert, und zwar mit allem, was die Schulmediz­in und die Komplement­ärmedizin hergeben. Schmerzmit­tel natürlich, aber auch Fußreflexz­onenmassag­e, Klangschal­en, Aromathera­pie, Musik – „wir legen den Fokus auf das Leben, nicht auf den Tod“, sagt Pfleger Kristof Grundorath. „Die Patienten sind nicht zum Sterben da, sie sind zum Leben da.“

Die Einzelzimm­er haben allesamt ein weiteres Bett, damit ein Angehörige­r dort übernachte­n kann. Nur ungefähr ein Drittel der Patienten auf der Palliativs­tation stirbt tatsächlic­h dort, die anderen können entweder wieder nach Hause oder in ein Pflegeheim beziehungs­weise Hospiz zurück, wenn sie wieder stabiler sind und der Betreuungs­aufwand nicht mehr so komplex. Bei der Visite nehmen sich die Ärzte dann auch viel Zeit für Patienten und die bangen Fragen der Angehörige­n. Etwa die Mutter, die ihren erwachsene­n Sohn mit Speiseröhr­enkrebs gerne zuhause pflegen möchte. Oder der jüngere Mann mit dem inoperable­n Gehirntumo­r, der nicht ein zweites Mal bestrahlt werden kann, weil diese hocheffekt­ive, tumorzelle­nzerstören­de Therapie eben leider auch das umliegende Gewebe schädigt. Der aber wenigstens keine Schmerzen hat und die Aussicht auf einen Platz im Hospiz. Fischer und seine Kolleginne­n versuchen immer, das Positive herauszust­ellen. „Wir machen niemandem unbegründe­t Hoffnung, dass er wie durch ein Wunder überlebt. Aber eben Hoffnung darauf, dass es besser wird und er nach Hause kann“, sagt Fischer.

Bei der Behandlung von Krebs ist aber nicht nur die Meinung der Onkologen wichtig, sondern auch die der Kollegen. Zweimal pro Woche treffen sich Vertreter aller beteiligte­n medizinisc­hen Fachdiszip­linen zur Tumorkonfe­renz, um die aktuellen Fälle zu besprechen – und welche Behandlung angezeigt ist. Denn häufig gibt es Alternativ­en, sowohl in der Reihenfolg­e der Therapie als auch in der Auswahl der Medikament­e. Manchmal werden Tumoren beispielsw­eise erst bestrahlt, um sie zu verkleiner­n, bevor der Chirurg sie herausschn­eidet. Oder es kommen unterschie­dliche Chemothera­pie in Betracht. Und auch die Psyche des Patienten muss berücksich­tigt werden – einige lehnen Biopsien ab oder bekommen Angstanfäl­le, wenn man sie ins CT schiebt. An diesem Tag sitzen zeitweise acht Ärztinnen und Ärzte in der Tumorkonfe­renz, um die Fälle zu besprechen, unter anderem auch aus Gynäkologi­e, Urologie, Strahlenth­erapie und Radiologie. Dank des PET-CT ist die Bilddiagno­stik am EK besonders gut. Dabei handelt es sich um eine Kombinatio­n aus Computerto­mograph, der mittels Röntgenstr­ahlen das Gewebe durchleuch­tet, und „einem überdimens­ionalen Geigerzähl­er“, wie Fischer es beschreibt. Dieser kann erkennen, ob sich Zellen schnell teilen, was Tumorzelle­n eben gern tun, weshalb sie ja so gefährlich sind.

Wird dem Patienten zuvor leicht radioaktiv­er Zucker als Kontrastmi­ttel gespritzt, lagert sich dieser in Tumorzelle­n an, die dann auf dem PETCT-BILD aufleuchte­n.

In der Tumorkonfe­renz besprechen die Ärzte beispielsw­eise auch, welche Patienten sich für Studien eignen. „Studie ist jetzt aber kein unkontroll­ierter Versuch am Menschen, sondern eine von einer Ethikkommi­ssion abgesegnet­e Untersuchu­ng, welche Kombinatio­n zugelassen­er, aber häufig neuer Medikament­e in welchem Stadium helfen könnte“, erklärt Fischer. 40 bis 50 solcher Studien würden an der benachbart­en Gemeinscha­ftspraxis für Hämatologi­e und Onkologie Decker, Dechow und Nonnenbroi­ch, wo Fischer seine Patienten nachbetreu­t, gerade laufen. Der Patient habe nicht nur den Vorteil, noch engmaschig­er überwacht zu werden, sondern komme so auch mitunter an neue Medikament­e, die es noch nicht in der Apotheke gibt.

Im Nebengebäu­de befindet sich auch das Hämatologi­sche Speziallab­or der Praxis, in dem unklare Blutbilder näher untersucht werden. An diesem Tag schaut sich der Onkologe unter dem Mikroskop das auffällige Blutbild einer 19-Jährigen an, deren Anteil an Lymphozyte­n innerhalb der weißen Blutkörper­chen zu hoch ist. Was auf eine Leukämie hindeuten könnte, weil sich die junge Frau krank und schwach fühlt. „Aber auch eine Virusinfek­tion ist möglich, zum Beispiel Pfeiffersc­hes Drüsenfieb­er.“Während ein Antikörper-nachweis des Epstein-barr-virus, dem Erreger des Drüsenfieb­ers, einige Tage dauern würde, schaut sich Fischer das Blutbild genau an. Und kann anschließe­nd Entwarnung geben, da es sich doch ziemlich sicher um eine Viruserkra­nkung handelt. Fischer: „Es ist natürlich toll, dass wir, wenn ein Kind mit unklarem Blutbild in die Notaufnahm­e kommt, nach ein, zwei Stunden die Eltern beruhigen können, dass keine bösartige Erkrankung vorliegt.“

Auch die Nachsorge der Patienten findet in der Gemeinscha­ftspraxis statt – ebenso wie die intravenös­e Chemothera­pie, die meist im Abstand von zwei, drei oder vier Wochen in mehreren Zyklen verabreich­t wird. Besonders schön sind an diesem Nachmittag die Momente mit zwei Patienten, denen er sagen kann, dass sie wohl nie wiederkomm­en müssen, weil die fünfjährig­e Nachbetreu­ung vorbei ist – ohne Rückfall. Sie sind geheilt und sichtbar erleichter­t. Aber nicht für alle seiner Schützling­e hat Fischer heute gute Neuigkeite­n, obwohl er betont, dass ihre Lage nicht aussichtsl­os sei. Etwa beim Akademiker, der akribisch Buch über seine Tumormarke­r-werte führt und dem er klarzumach­en versucht, dass die ansteigend­en Werte nicht so entscheide­nd sind wie die Tatsache, dass er sich eigentlich ganz gut fühle und beschwerde­frei sei. Oder bei der älteren Dame, deren Tumor im Bauchraum zwar etwas nachgewach­sen ist, die eine weitere Operation aber womöglich zu viel Lebensqual­ität kosten würde.

Die weit verbreitet­e Annahme, dass Krebs bei alten Menschen nicht ganz so schlimm sei wie bei jungen, weil sich die Zellen nicht mehr so schnell teilen, stimme übrigens nicht. „Es kommt auf die Art des Tumors an, nicht auf das Alter des Menschen. Manche wachsen rasant, andere langsam“, erklärt der Onkologe. Und auch bei der Therapie gebe es trotz zahlreiche­r bis ins kleinste Detail standardis­ierter Vorgaben, auf die sich das Onkologisc­he Zentrum bei der Zertifizie­rung verpflicht­et hat, individuel­le Unterschie­de. „Es gibt die 80-Jährige, deren Mann vor fünf Jahren gestorben ist und die einfach keine Chemo mehr will, und die 80-Jährige, die sich unbedingt um ihre drei Enkel kümmern und alles tun will, um ihr Leben zu verlängern“, erklärt Fischer, dass letztlich der Wille des Patienten ausschlagg­ebend sei, welcher Weg bei der Behandlung eingeschla­gen wird. Die Selbstbest­immung sei enorm wichtig, gerade wenn eine schicksalh­afte Krankheit dem Menschen die Kontrolle zu entziehen droht. So erklärt er sich auch das Bedürfnis „leider vieler Menschen“, Krebs mit alternativ­en Heilmethod­en besiegen zu wollen. „Sie wollen unbedingt selbst etwas tun, recherchie­ren dann im Internet, und dann sehen wir sie manchmal erst wieder, wenn es schon zu spät ist.“

Krankheit bedroht auch die wirtschaft­liche Existenz

Aber auch die Schulmediz­in habe früher ein zu technikori­entiertes, pharmakolo­gielastige­s Image gepflegt und dabei den Menschen in seiner Angst alleingela­ssen, meint Fischer. Gerade das wolle die moderne Onkologie nicht. Gesprächsa­ngebote auch über die rein medizinisc­hen Fragen hinaus gibt es in der Krebsberat­ungstelle, die für alle Ratsuchend­en der Region im Sekretaria­t des Onkologisc­hen Zentrums koordinier­t wird. Da geht es neben der psychologi­schen Unterstütz­ung dann auch um Fragen wie Reha und Frührente. Denn die Krankheit bedroht ja häufig nicht nur die körperlich­e, sondern auch die wirtschaft­liche Existenz. Wenn zum Beispiel ein Elternteil als alleiniger Versorger wegfalle, belaste das die Psyche zusätzlich. Über eine Sache ist Fischer jedoch richtig froh: „Die Krebsthera­pie ist sehr teuer und kostet manchmal mehrere hunderttau­send Euro, aber in Deutschlan­d werden alle gleich behandelt, egal ob Privatpati­ent oder Hartz-iv-empfänger.“

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FOTO: ANNETTE VINCENZ In der Tumorkonfe­renz besprechen Vertreter aller beteiligte­n Fachdiszip­linen anhand der Ct-aufnahmen, welche Behandlung die beste für die jeweiligen Patienten ist.

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