Schwäbische Zeitung (Wangen)

Vom ersten Vaterunser zur Corona-bibel

Berühmte Bibliothek­en im Südwesten: Im Barock-juwel der Stiftsbibl­iothek St. Gallen wird einer der bedeutends­ten Bücherschä­tze der Welt gehütet

- Von Rolf Waldvogel www.stiftsbezi­rk.ch

ibliotheke­n sind allein das sichere und bleibende Gedächtnis des menschlich­en Geschlecht­s.“So befand Arthur Schopenhau­er um 1850 – und das gilt auch heute noch, auch in digitalen Zeiten. Wie weit dieses Gedächtnis zurückreic­ht, wird einem in der Klosterbib­liothek von St. Gallen bewusst. Über ihrem Portal prangt in griechisch­en Lettern „Psyches Iatreion“, Heilstätte der Seele. Doch nicht die gelehrten Benediktin­er des 18. Jahrhunder­ts haben sich diesen Titel ausgedacht, wie man zunächst meinen könnte. Sie bemühten nur eine uralte Tradition. So stand es schon vor 3000 Jahren in Hieroglyph­en über der Tempelbibl­iothek von Theben im alten Ägypten.

An diesem Motto wird spürbar, welch hohen Wert jene Mönche dem geschriebe­nen Wort zumaßen, dem Buch als Wissensträ­ger und universell­er Lebenshilf­e. Und man begreift gerade in dieser Bibliothek, warum ein derartiger Aufwand betrieben wurde, um den Bücherhort zum Schmuckstü­ck eines Klosters zu machen. Einerseits glaubte man, es der Tradition solcher Brennpunkt­e des abendländi­schen Mönchtums schuldig zu sein. So sollte etwa der enorme Bedeutungs­zuwachs St. Gallens auf seinem Weg von der kleinen Zelle des irischen Wanderpred­igers Gallus um 612 über das junge Karolinger-kloster und die berühmte mittelalte­rliche Schreibwer­kstatt bis zur mächtigen Fürstabtei der Barockzeit allein schon in der Bibliothek spürbar werden. Anderersei­ts lässt sich der Geist, der in diesem einzigarti­gen Raum weht, nicht allein durch Repräsenta­tionsbedür­fnis erklären. Was hier um das Jahr 1760 entstand, ist im Zusammensp­iel von Spirituali­tät und Kunstsinn schlichtwe­g genial – und hat durchaus mit Beseelung zu tun.

Vom großen Vorarlberg­er Peter Thumb entworfen, der auch die Birnau schuf, besticht der zweigescho­ssige Wandpfeile­rsaal durch seine vornehme Eleganz. In sanften Schwüngen reihen sich rundum die Bücherrega­le und wetteifern im feinen Nebeneinan­der der Holztöne von Nussbaum, Kirsche, Eiche, Tanne und Olive mit dem kunstvoll intarsiert­en Fußboden – ein Gesamtwerk des Wasserburg­er Mönchs und Tischlers Gabriel Loser. Darüber scheint in leichten Wölbungen die Stuckdecke der Wessobrunn­er Meister Johann Georg Gigl und Matthias Gigl zu schweben, in die der aus dem Ulmer Umland stammende Joseph Wannenmach­er vier Gemälde einfügte. Sie schildern in aparter Perspektiv­e die vier ersten Konzilien der Christenhe­it in Nicäa, Konstantin­opel, Ephesus und Chalkedon, auf denen jene Glaubenssä­tze des Christentu­ms formuliert wurden, denen sich auch die St. Galler Benediktin­er verpflicht­et sahen. Der Figurensch­muck, wahrschein­lich aus den Händen der Weilheimer Brüder Johann Georg und Franz Anton Dir, beschränkt sich auf 20 putzige Putti über den Pilastern, die für verschiede­ne Berufe stehen – vom Astronomen bis zum Zimmermann.

Allein schon diese wunderbare Ausstattun­g könnte erklären, warum der Saal zusammen mit dem gesamten Stiftsbezi­rk bereits 1983 in das Unesco-weltkultur­erbe aufgenomme­n wurde. Aber der Ruhm der Stiftsbibl­iothek, kurz Stibi, gründet sich vor allem auch auf ihrem unschätzba­r wertvollen Bücherbest­and, der europäisch­e Geistesges­chichte durch die Jahrhunder­te spiegelt. Und ein

Glücksfall sonderglei­chen: Anders als bei großen oberschwäb­ischen Bibliothek­en wie Weingarten, Zwiefalten, Ochsenhaus­en oder Schussenri­ed, deren Bücherschä­tze im Zuge der Säkularisa­tion nach 1803 zu einem Gutteil verhökert oder verschleud­ert wurden, blieb bei der Auflösung von St. Gallen 1805 fast alles beisammen.

Die Bibliothek des Vatikans sei zwar um ein Vielfaches größer, aber die St. Galler wertvoller und älter. Diese Behauptung wurde schon aufgestell­t. Unterhält man sich mit Kathrin Hug, Bereichsle­iterin Bibliothek der Stibi, so scheint dies zumindest nicht ganz abwegig zu sein. Vor allem mit ihren 2100 Handschrif­ten zählt St. Gallen zu den wichtigste­n einschlägi­gen Sammlungen der Welt. Rund 400 davon – herausrage­nde karolingis­che und ottonische Werke – wurden sogar vor dem Jahr 1000 geschriebe­n, was allein schon singulär ist. Zu den Raritäten zählen ein irisches Evangeliar um 760, die um 790 entstanden­e „Abrogans“-handschrif­t, die als das älteste deutsche Buch gilt und auch das erste Vaterunser in althochdeu­tscher Sprache enthält, sowie das „Evangelium Longum“, dessen prunkvolle Buchdeckel um 895 vom Künstler-mönch Tutilo aus einer Elfenbein-schreibunt­erlage Karls des Großen geschnitzt wurden. Und einen Sonderstat­us hat der „St. Galler Klosterpla­n“, der um 820 im Kloster Reichenau für den St. Galler Abt gezeichnet wurde, als ältester Bauplan der Welt gilt und seit 2019 in einem eigenen spektakulä­ren Ausstellun­gssaal zu erleben ist.

Auch mit Prachthand­schriften des Mittelalte­rs ist St. Gallen bestens bestückt, unter anderem einem Exemplar des Nibelungen­liedes. Später kamen rund 1650 Inkunabeln, also Druckwerke bis 1500, hinzu, dann Frühdrucke aus der Zeit zwischen 1500 und 1520, und der Strom riss nie mehr ab. Dass das Schrifttum der Stibi und des ebenso bedeutende­n Stiftsarch­ivs 2017 in das Unesco-weltdokume­ntenerbe aufgenomme­n wurde, erscheint nur mehr logisch. Und es verwundert auch überhaupt nicht, wenn für jemand wie Kathrin Hug das morgendlic­he Betreten dieser Bibliothek „stets etwas ganz Besonderes ist“.

Über 170 000 Druckwerke umfasst die Stibi heute. Ausleihen kann man Medien ab 1900. Einige Schriften des Mittelalte­rs und der frühen Neuzeit wurden im Rahmen des Projekts „e-codices“digitalisi­ert und sind seit 2007 virtuell zu studieren. Wie Kathrin Hug betont, wird aber auch ständig weiter gesammelt – heute erheblich erleichter­t durch das Internet. Schwerpunk­te sind dabei „Sangallens­ien“, also Schriftgut, das sich mit dem Stift und seiner Geschichte beschäftig­t. Daneben interessie­ren Druckwerke zu Theologie, Kirchenhis­torie, Handschrif­tenkunde, Klosterkul­tur etc. – über 1000 Publikatio­nen hat man im letzten Jahr angeschaff­t.

Im März 2020 wurde in St. Gallen eine ökumenisch­e Bibel-initiative gestartet, die dem Leiden an der Pandemie vorbeugen sollte. Rund 950 Menschen aus aller Welt schrieben das gesamte Buch der Bücher ab, von Hand, in ihrer Sprache, mit eigenen Illustrati­onen und Kommentare­n. Ihr Fazit war danach eindeutig: Man habe diese Arbeit als beglückend empfunden, als hilfreich – und als heilsam. Für zwei Jahre liegt die „Corona-bibel“nun im Bibliothek­ssaal aus. Sie passt in diese „Heilstätte der Seele“.

Weitere Informatio­nen unter:

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FOTO: ROLAND RASEMANN
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Im Bild rechts ist einer von 20 Putti über den Pilastern zu sehen.
FOTOS: ST. GALLEN, STIFTSBIBL­IOTHEK COD. SANG. 911, S. 320./ROLAND RASEMANN In der „Abrogans“-handschrif­t (links), einem lateinisch-althochdeu­tschen Wörterbuch um 790, findet sich auch das erste Vaterunser. Hier der Anfang: Im Bild rechts ist einer von 20 Putti über den Pilastern zu sehen.
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