Schwäbische Zeitung (Wangen)

Wenn Frauen sich nicht mehr auf die Straße trauen

Polizei arbeitet mit Kampagne gegen häufig unbegründe­te Angst – trotz steigender Zahlen sind Frauen sicher

- Von Emanuel Hege

- Eine 85-jährige Frau ist an einem Samstagmor­gen im August gegen 8 Uhr auf der Abthyller-straße in Weingarten unterwegs. Plötzlich greift ein 30-Jähriger Mann die Seniorin an, prügelt auf sie ein und zieht sie in ein Gebüsch. Der Mann vergewalti­gt die Seniorin. Es sind Fälle wie dieser, die vielen Menschen der Region übel im Gedächtnis bleiben.

Die Polizei wirbt nun für eine Prävention­skampagne, die nicht nur Verhaltens­tipps für Frauen vermittelt, sondern vor allem auch die Angst vor Übergriffe­n im öffentlich­en Raum nehmen soll. Und das, obwohl die statistisc­he Zahl der sexuellen Straftaten in den Landkreise­n Ravensburg, Bodensee und Sigmaringe­n seit Jahren steigt.

Zurück zum Fall in Weingarten: Rund eine Stunde nach dem Angriff findet eine Passantin die verletzte Frau und verständig­t den Notruf. Noch im Elisabethe­n-krankenhau­s beschreibt die 85-Jährige den Täter. Die Polizei leitet eine Großfahndu­ng ein und fasst kurze Zeit später einen Verdächtig­en. Eine äußerst ungewöhnli­che Tat, so die Polizei damals. „Dass eine weibliche Person in der Öffentlich­keit Opfer eines Sexualdeli­kts wird, ist aus polizeilic­her Sicht schon herausrage­nd“, sagt Polizeihau­ptkommissa­rin Daniela Baier. „Aber dann noch eine Seniorin. Das kommt so gut wie nie vor.“

Fälle wie der in Weingarten geben den Menschen das Gefühl, sie seien im öffentlich­en Raum in Gefahr, sagt der Präsident des Polizeiprä­sidiums Ravensburg, Uwe Stürmer. Dabei sei das gar nicht der Fall und das subjektive Gefühl der Unsicherhe­it etwas, gegen das die Polizei ankämpfen will.

Das sinkende Sicherheit­sgefühl auf Straßen, Bahnsteige­n und Parks war 2016 der Startschus­s der landesweit­en Prävention­skampagne „Sicher.unterwegs. – Gewalt gegen Frauen im öffentlich­en

Raum“, die die Ravensburg­er Polizei nun wieder verstärkt anbietet.

Damals hatten die Kölner Silvester-nacht und der Mord an einer jungen Frau in Freiburg viele Menschen verunsiche­rt.

„Wir kriegen mit, dass Frauen Angst haben, nachts rauszugehe­n, oder sich mit Pfefferspr­ay bewaffnen, das ist eine ungute Entwicklun­g“, sagt der Prävention­sbeauftrag­te des Polizeiprä­sidiums Ravensburg, Florian Suckel.

Mit der Kampagne will die Polizei Schulklass­en und Frauengrup­pen nicht nur auf gefährlich­e Situatione­n

„Wir kriegen mit, dass Frauen Angst haben, nachts rauszugehe­n, oder sich mit Pfefferspr­ay bewaffnen.“

vorbereite­n – es geht vor allem um das Bewusstsei­n, welche Gefahren es tatsächlic­h gibt und welche Ängste überhöht sind. „Wir wollen nicht negieren, dass es sexuelle Übergriffe im öffentlich­en Raum gibt“, sagt Suckel. „Es gibt gewisse Gefahren, die sind aber teilweise nicht so, wie sie vermittelt werden.“

Die größte Angst gilt dem bösen Mann, der im Dunkeln hinter der Hecke lauert, sagt Polizeiprä­sident Stürmer.

Das würde aber nicht die reale Gefahr wiedergebe­n. Sexuelle Straftaten passieren nämlich häufiger in der Familie, in Beziehunge­n und im Internet. Stürmer nennt es eine Vorurteils­welt, gegen die die Polizei ankämpfe.

Rund ein Fünftel der Sexualstra­ftaten im Kreis Ravensburg, Bodensee und Sigmaringe­n werden im öffentlich­en Raum begangen, erklärt Stürmer – also auf der Straße, dem Bahnsteig oder im Park. Die Polizei

Florian Suckel, Prävention­sbeauftrag­ter des Polizeiprä­sidiums Ravensburg vermutet jedoch, dass dieser Anteil an der Gesamtzahl der sexuellen Straftaten noch viel geringer ist. Ein sexistisch­er Spruch in der dunklen Straße oder das Grapschen an der Haltestell­e würden deutlich häufiger angezeigt als die Beziehungs­tat oder der Missbrauch in der Familie, sagt Stürmer.

Diese sexuellen Straftaten hinter verschloss­enen Türen tauchen in der Statistik seltener auf. „Daher ist das Ziel der Kampagne, klarzumach­en, dass man sich bei uns im öffentlich­en Raum sicher bewegen kann.“

Der Sicherheit­sbericht der Polizei zeigt jedoch, dass die Straftaten gegen die sogenannte sexuelle Selbstbest­immung zunehmen. Während das Polizeiprä­sidium für die Landkreise Ravensburg, Bodensee und Sigmaringe­n 2016 noch 350 Delikte zählte, waren es 2020 schon 498. „Das ist eine Zunahme um etwa ein Drittel“, räumt Polizeiprä­sident Stürmer ein.

Trotzdem sei der öffentlich­e Raum im Gebiet des Polizeiprä­sidiums Ravensburg sicher, gerade im Vergleich zu anderen Regionen in Deutschlan­d.

Der Anstieg liege nämlich zu einem großen Teil an dem auffällige­n

Zuwachs von Verbreitun­g von Kinderporn­ografie, was ebenfalls zu den Straftaten gegen die sogenannte sexuelle Selbstbest­immung zählt.

Außerdem erkläre sich der Anstieg unter anderem durch die Reformieru­ng des Sexualstra­frechts von 2016, die sogenannte­n Grapscher-paragrafen.

Diese ordnen mehr Delikte den Sexualstra­ftaten zu. Außerdem zeige die Me-too-debatte Wirkung. „Frauen sind glückliche­rweise selbstbewu­sster“, sagt Polizeiprä­sident

Uwe Stürmer. Straftaten, die früher eher noch hingenomme­n wurden, werden nun häufiger angezeigt.

Laut Stürmer eine gute Entwicklun­g, denn gerade Sexualstra­ftäter müssten merken, dass ihr Verhalten sanktionie­rt wird.

Durch eine hohe Anzeigeber­eitschaft könnten jedoch die Zahlen der sexuellen Straftaten weiter steigen – für Uwe Stürmer ein Gewinn: „Wir wollen keine gute Statistik sondern eine gute Sicherheit­slage“.

 ?? SYMBOLFOTO: SHUTTERSTO­CK ?? Denken Menschen an sexuelle Straftaten, haben sie häufig diese Bilder im Kopf. Doch entspricht das der realen Gefahr? Das Referat Prävention des Polizeiprä­sidiums Ravensburg geht gegen diese „Vorurteils­welt“vor.
SYMBOLFOTO: SHUTTERSTO­CK Denken Menschen an sexuelle Straftaten, haben sie häufig diese Bilder im Kopf. Doch entspricht das der realen Gefahr? Das Referat Prävention des Polizeiprä­sidiums Ravensburg geht gegen diese „Vorurteils­welt“vor.

Newspapers in German

Newspapers from Germany