Wenn Frauen sich nicht mehr auf die Straße trauen
Polizei arbeitet mit Kampagne gegen häufig unbegründete Angst – trotz steigender Zahlen sind Frauen sicher
- Eine 85-jährige Frau ist an einem Samstagmorgen im August gegen 8 Uhr auf der Abthyller-straße in Weingarten unterwegs. Plötzlich greift ein 30-Jähriger Mann die Seniorin an, prügelt auf sie ein und zieht sie in ein Gebüsch. Der Mann vergewaltigt die Seniorin. Es sind Fälle wie dieser, die vielen Menschen der Region übel im Gedächtnis bleiben.
Die Polizei wirbt nun für eine Präventionskampagne, die nicht nur Verhaltenstipps für Frauen vermittelt, sondern vor allem auch die Angst vor Übergriffen im öffentlichen Raum nehmen soll. Und das, obwohl die statistische Zahl der sexuellen Straftaten in den Landkreisen Ravensburg, Bodensee und Sigmaringen seit Jahren steigt.
Zurück zum Fall in Weingarten: Rund eine Stunde nach dem Angriff findet eine Passantin die verletzte Frau und verständigt den Notruf. Noch im Elisabethen-krankenhaus beschreibt die 85-Jährige den Täter. Die Polizei leitet eine Großfahndung ein und fasst kurze Zeit später einen Verdächtigen. Eine äußerst ungewöhnliche Tat, so die Polizei damals. „Dass eine weibliche Person in der Öffentlichkeit Opfer eines Sexualdelikts wird, ist aus polizeilicher Sicht schon herausragend“, sagt Polizeihauptkommissarin Daniela Baier. „Aber dann noch eine Seniorin. Das kommt so gut wie nie vor.“
Fälle wie der in Weingarten geben den Menschen das Gefühl, sie seien im öffentlichen Raum in Gefahr, sagt der Präsident des Polizeipräsidiums Ravensburg, Uwe Stürmer. Dabei sei das gar nicht der Fall und das subjektive Gefühl der Unsicherheit etwas, gegen das die Polizei ankämpfen will.
Das sinkende Sicherheitsgefühl auf Straßen, Bahnsteigen und Parks war 2016 der Startschuss der landesweiten Präventionskampagne „Sicher.unterwegs. – Gewalt gegen Frauen im öffentlichen
Raum“, die die Ravensburger Polizei nun wieder verstärkt anbietet.
Damals hatten die Kölner Silvester-nacht und der Mord an einer jungen Frau in Freiburg viele Menschen verunsichert.
„Wir kriegen mit, dass Frauen Angst haben, nachts rauszugehen, oder sich mit Pfefferspray bewaffnen, das ist eine ungute Entwicklung“, sagt der Präventionsbeauftragte des Polizeipräsidiums Ravensburg, Florian Suckel.
Mit der Kampagne will die Polizei Schulklassen und Frauengruppen nicht nur auf gefährliche Situationen
„Wir kriegen mit, dass Frauen Angst haben, nachts rauszugehen, oder sich mit Pfefferspray bewaffnen.“
vorbereiten – es geht vor allem um das Bewusstsein, welche Gefahren es tatsächlich gibt und welche Ängste überhöht sind. „Wir wollen nicht negieren, dass es sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum gibt“, sagt Suckel. „Es gibt gewisse Gefahren, die sind aber teilweise nicht so, wie sie vermittelt werden.“
Die größte Angst gilt dem bösen Mann, der im Dunkeln hinter der Hecke lauert, sagt Polizeipräsident Stürmer.
Das würde aber nicht die reale Gefahr wiedergeben. Sexuelle Straftaten passieren nämlich häufiger in der Familie, in Beziehungen und im Internet. Stürmer nennt es eine Vorurteilswelt, gegen die die Polizei ankämpfe.
Rund ein Fünftel der Sexualstraftaten im Kreis Ravensburg, Bodensee und Sigmaringen werden im öffentlichen Raum begangen, erklärt Stürmer – also auf der Straße, dem Bahnsteig oder im Park. Die Polizei
Florian Suckel, Präventionsbeauftragter des Polizeipräsidiums Ravensburg vermutet jedoch, dass dieser Anteil an der Gesamtzahl der sexuellen Straftaten noch viel geringer ist. Ein sexistischer Spruch in der dunklen Straße oder das Grapschen an der Haltestelle würden deutlich häufiger angezeigt als die Beziehungstat oder der Missbrauch in der Familie, sagt Stürmer.
Diese sexuellen Straftaten hinter verschlossenen Türen tauchen in der Statistik seltener auf. „Daher ist das Ziel der Kampagne, klarzumachen, dass man sich bei uns im öffentlichen Raum sicher bewegen kann.“
Der Sicherheitsbericht der Polizei zeigt jedoch, dass die Straftaten gegen die sogenannte sexuelle Selbstbestimmung zunehmen. Während das Polizeipräsidium für die Landkreise Ravensburg, Bodensee und Sigmaringen 2016 noch 350 Delikte zählte, waren es 2020 schon 498. „Das ist eine Zunahme um etwa ein Drittel“, räumt Polizeipräsident Stürmer ein.
Trotzdem sei der öffentliche Raum im Gebiet des Polizeipräsidiums Ravensburg sicher, gerade im Vergleich zu anderen Regionen in Deutschland.
Der Anstieg liege nämlich zu einem großen Teil an dem auffälligen
Zuwachs von Verbreitung von Kinderpornografie, was ebenfalls zu den Straftaten gegen die sogenannte sexuelle Selbstbestimmung zählt.
Außerdem erkläre sich der Anstieg unter anderem durch die Reformierung des Sexualstrafrechts von 2016, die sogenannten Grapscher-paragrafen.
Diese ordnen mehr Delikte den Sexualstraftaten zu. Außerdem zeige die Me-too-debatte Wirkung. „Frauen sind glücklicherweise selbstbewusster“, sagt Polizeipräsident
Uwe Stürmer. Straftaten, die früher eher noch hingenommen wurden, werden nun häufiger angezeigt.
Laut Stürmer eine gute Entwicklung, denn gerade Sexualstraftäter müssten merken, dass ihr Verhalten sanktioniert wird.
Durch eine hohe Anzeigebereitschaft könnten jedoch die Zahlen der sexuellen Straftaten weiter steigen – für Uwe Stürmer ein Gewinn: „Wir wollen keine gute Statistik sondern eine gute Sicherheitslage“.