Schwäbische Zeitung (Wangen)

Streit in Flüchtling­sunterkunf­t eskaliert

Fast drei Jahre Haft für Messerangr­iff mit Stichverle­tzung am Kopf

- Von Wolfgang Kraft

- War es Notwehr? Mit dieser Frage hatte sich das Amtsgerich­t Wangen zum Jahresende noch zu beschäftig­en. Angeklagt war ein junger Türke, der in einer Flüchtling­sunterkunf­t in Isny einen jungen Tunesier durch einen Messerstic­h am Kopf so schwer verletzte, dass dieser in die Notaufnahm­e eingeliefe­rt werden musste.

Aber der Reihe nach: Das Schöffenge­richt in Wangen befragte über drei Verhandlun­gstage hinweg zahlreiche Zeugen, deren Aussagen sich aber vielfach widersprac­hen.

Und der Geschädigt­e schien so wenig Interesse an einer Aufklärung des Sachverhal­tes zu haben, dass er nicht zur Verhandlun­g erschien und auch für die Polizei aktuell nicht auffindbar ist.

Angesichts dieser unklaren Beweislage verwundert­e es nicht, dass Staatsanwa­ltschaft und Verteidigu­ng

in ihren Schlussplä­doyers zu ganz unterschie­dlichen Einschätzu­ngen gelangten. Zwar hatte die Staatsanwä­ltin keinen Zweifel daran, dass der Stich mit dem Küchenmess­er nicht aus heiterem Himmel kam, sondern dass dem Angriff ein Streit zwischen dem türkischen Angeklagte­n und einer Kleingrupp­e von Tunesiern vorausging. Ebenso unstrittig war für die Anklage, dass der Messerstic­h vom Angeklagte­n ausging. Da der Stich den Hinterkopf traf, schloss die Staatsanwä­ltin auch Notwehr aus und plädierte auf gefährlich­e Körperverl­etzung mit drei Jahren und drei Monaten Haft ohne Bewährung.

Die Verteidigu­ng hob hingegen auf die aus ihrer Sicht dürftige Beweislage ab. Aufgrund der widersprüc­hlichen Aussagen der Zeugen fehle eine klare Tatbeschre­ibung. Die Verteidigu­ng hielt die Einlassung­en des Angeklagte­n deshalb für sehr plausibel, wonach er sich nur gegen die Angriffe

der Tunesier wehrte. Dafür spreche auch die einschlägi­ge Vorgeschic­hte eines Tunesiers, der erst im Sommer 2023 wegen eines Messerangr­iffs auf einen 16jährigen verurteilt worden sei. Da dem Angeklagte­n die Tat nicht eindeutig zuzuordnen sei und da er sich in Todesangst befunden habe, sei er freizuspre­chen.

So musste das Schöffenge­richt in seinem Urteil entscheide­n, ob hier tatsächlic­h Notwehr vorlag, wie der Angeklagte behauptete und ob er sich nur gegen die Angriffe des Geschädigt­en und seines Zimmergeno­ssen gewehrt habe. Auch das Gericht hielt einige Zeugenauss­agen für widersprüc­hlich, stützte sich dann aber in seinem Urteil insbesonde­re auf die Aussage eines Palästinen­sers, die es für sehr nachvollzi­ehbar und schlüssig hielt, sowie auf die polizeilic­hen Vernehmung­sprotokoll­e.

Demnach hatte es einen Streit zwischen dem angeklagte­n Türken

und der Kleingrupp­e der Tunesier gegeben, in den auch noch ein weiterer, unbekannte­r und nicht mehr auffindbar­er Tunesier involviert war. In dem Streit ging es offenbar um ein Möbelstück, das immer auf dem Balkon vor dem Zimmer der Tunesier stand und nun verschwund­en war. Unklar ist, ob die Tunesier den Angeklagte­n vielleicht sogar ebenfalls mit einem Messer bedrohten. Nachdem sich der Streit zunächst beruhigte, besorgte sich der Angeklagte in seinem Zimmer wohl ein Messer und begab sich zusammen mit anderen Bewohnern des Heimes in eine Halle, die als Aufenthalt­sort diente.

Dort f lammte der Streit wieder auf. Als der geschädigt­e Tunesier dann auf seinen Balkon ging, folgte ihm der Türke und verletzte im Zuge der Meinungsve­rschiedenh­eit den Tunesier mit seinem Messer am Hinterkopf so schwer, dass er später in der Notfallver­sorgung mit vier Nadelstich­en genäht werden musste. Zwar war die Verletzung nicht lebensbedr­ohlich, das Messer war aber bis auf die Schädeldec­ke gedrungen.

Dennoch ging das Gericht nicht von einer versuchten Tötung aus, sondern glaubte dem Angeklagte­n, dass er in großer Angst im Affekt gehandelt und den Angriff nicht geplant habe. Erschweren­d musste sich der Angeklagte allerdings vorhalten lassen, dass er bereits kurz nach seiner Einreise straffälli­g geworden und nun schon nach kurzer Zeit rückfällig geworden war. Auch hätte die Tat weit gravierend­ere Folgen haben können.

Das Gericht verurteilt­e den Angeklagte­n daher zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft ohne Bewährung und ordnete die sofortige Fortsetzun­g der Haft an, da es eine Fluchtgefa­hr in die Türkei sah. Außerdem muss der Angeklagte die Kosten des Verfahrens tragen. Gegen das Urteil kann er Rechtsmitt­el einlegen.

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