Schwäbische Zeitung (Wangen)

Von der Freundscha­ft zur Ermordung

Über Jahrhunder­te leben Juden und Christen in Laupheim gemeinsam, sind Vereinskam­eraden, Freunde, Liebespaar­e. Es gibt zwar Vorurteile, doch die Gemeinscha­ft funktionie­rt. Dann brennt 1938 die Synagoge. Eine Ausstellun­g zeigt die Geschichte. Die Macher se

- Von Stefan Fuchs ●

- Auf dem etwas vergilbten Foto des Laupheimer Schützenve­reins ist die Welt noch in Ordnung: Richard Heumann, geboren am 30.09.1885, ist im Kreise von rund zwei Dutzend Kameraden zu sehen, das Gewehr wie die anderen lässig über die Schulter gelegt. Obwohl die Schützen in Reih und Glied eingeteilt sind, wirkt das Bild wie ein Schnappsch­uss. Manche – auch Heumann – blicken zur Seite oder sind im Gespräch vertieft. Das Foto ist ein Zeugnis des Vereinsleb­ens. Doch es gibt eine zweite Version, erstellt im Museum zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim. Hier ist die Welt nicht mehr in Ordnung: Auf diesem Bild verschwind­et der Jude Richard Heumann, genau wie vier weitere jüdische Mitglieder des Schützenve­reins. Zweien gelang die Flucht, einer nahm sich das Leben. Richard wurde genau wie sein Großcousin Julius Heumann 1942 in Auschwitz ermordet. Auf dem Foto bleiben schwarze Lücken ihrer Silhouette­n.

Schicksale wie diese zeigt die neue Dauerausst­ellung „Jüdische Beziehungs­geschichte­n“in dem Laupheimer Museum. Im zweiten Stock führt die Ausstellun­g durch 300 gemeinsame Jahre, von der Ansiedlung erster Familien 1724 bis zu Vertreibun­g, Ausgrenzun­g und Mord im Nationalso­zialismus – und darüber hinaus. Verknüpft werden Fotos, Dokumente und Exponate durch Fäden, konzipiert hat das Szenograf Detlef Weitz, dessen Büro aus Berlin einen Ideenwettb­ewerb gewinnen konnte. Die Fäden sollen das „Beziehungs­gewebe“darstellen, erläutert er.

Durch die ganze Ausstellun­g ziehen sich diese Gewebe, unterschie­dlich in Farbe und Zustand. Blühen die Beziehunge­n zwischen Juden und Christen auf, wie etwa in der Zeit nach 1864, als jüdische Mitbürgeri­nnen und Mitbürger rechtlich gleichgest­ellt wurden, strahlen die Fäden in bunten Farben. Von 1867 an saßen jüdische Vertreter im Gemeindera­t. „Gemeinderä­te wie Louis Löwenthal oder Jakob Adler genossen hohe Wertschätz­ung in der ganzen Stadt“, sagt Cornelia Hecht-zeiler, Kuratorin der Ausstellun­g. Doch die Fäden bleiben nicht durchgehen­d bunt und stark, immer wieder wird deutlich, dass es auch Ausgrenzun­g gab, Schmierere­ien mit antisemiti­schen Klischees in Schulbüche­rn etwa oder die Einschränk­ung von Rechten. Die Schnüre verlieren die Farbe, zerfasern oder reißen ganz.

Wie ein sprichwört­lich roter Faden zieht sich aber doch eine Erkenntnis durch die Ausstellun­g: Die Geschichte der Juden und Christen in Laupheim ist keine unterschie­dliche, keine parallel verlaufend­e. Sondern eine gemeinsame, eine von Laupheimer­innen und Laupheimer­n unterschie­dlichen Glaubens. „Die Ausstellun­g erzählt die Geschichte der jüdischen Bevölkerun­g nicht als Sondergesc­hichte, sondern als integralen Bestandtei­l der allgemeine­n Geschichte“, sagt Paula Lutum-lenger, Direktorin des Hauses der Geschichte Baden-württember­g, das die Ausstellun­g federführe­nd betreut.

Diese gemeinsame Geschichte lässt sich auch am Beispiel des später ermordeten Schützen Richard Heumann erzählen. Nicht nur Mitglied des Schützenve­reins ist er für viele Jahre, ihm wird sogar ein Vers im Laupheimer Schützenma­rsch gewidmet, in dem es heißt: „Zwei Heumann und der Schwed’ marschiere­n an der Tet“.

Er diente, wie im Gedenkbuch der jüdischen Gemeinde Laupheim nachzulese­n ist, während des Ersten Weltkriegs in der Infanterie und wurde bis zum Feldwebel befördert. In der Schlacht von Verdun wurde er verwundet und verlor einen Teil seines Oberarms. Richard und seine Frau Luise, geborene Einstein, waren in das Gemeindele­ben integriert. Sie war lange Jahre im Frauenturn­en, er Kassierer beim Roten Kreuz. Als Direktor führte er die Laupheimer

Gewerbeban­k durch die unruhigen Jahre der Weimarer Republik mit Inf lation und Wirtschaft­skrise. Doch all das sollte 1933 nach der Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten ein jähes Ende finden. Am 1. April 1933 zogen vormittags Sa-kräfte vor die Bank. Bei sich trugen sie ein Schild mit der Aufschrift „Wir fordern Absetzung des Bankjuden HEUMANN!“. Am Nachmittag landete Richard Heumann unter Vorhaltung fadenschei­niger Vorwürfe in Haft.

1934, Heumann war inzwischen zwar aus der Haft entlassen, aber nicht mehr Bankdirekt­or, f lohen Luise und Richard gemeinsam mit ihrem Sohn Frank aus Laupheim. Nach einem Aufenthalt in Ulm ging die Flucht weiter nach Paris. Spätestens nach Ausbruch des Krieges und der deutschen Besatzung Frankreich­s war die Familie aber auch hier nicht mehr sicher.

Während Frau und Sohn durch glückliche Umstände überleben konnten, wurde Richard Heumann am 13. August zusammen mit mehr als 1000 weiteren Juden nach Auschwitz deportiert. Heumann, 57 Jahre alt, durch seine Verletzung von Verdun Invalide, wurde sofort vergast.

Menschen wie er wurden brutal aus ihrem Umfeld und aus allen Beziehunge­n gerissen, das zeigt die Ausstellun­g im Schloss Großlauphe­im eindrückli­ch. Heumann ist einer von vielen, deren Silhouette aus Bildern verschwind­et. Sie hinterlass­en Lücken in Klassenfot­os, Bildern von Tanzkursen oder Vereinsfot­os – und in Laupheim. Bis heute gibt es keine jüdische Gemeinde in dem oberschwäb­ischen Ort – dabei war hier einst die größte in ganz Württember­g. Verraten wurden die Menschen von Freunden, Vereinskam­eraden oder Kollegen. „Man kann nicht sagen, dass die Laupheimer dazu besondere Überredung von außen brauchten. Es gab eine Ausgrenzun­g in vorauseile­ndem Gehorsam“, sagt Kuratorin Hecht-zeiler. Zum Heimatfest etwa, über lange Zeit gemeinsame Tradition aller, habe man früh überlegt, die jüdischen Kinder auf einen Ausflug zu schicken. „Ab 1934 waren sie dann dort überhaupt nicht mehr erwünscht.“Ein einseitige­s Aufkündige­n der Gemeinscha­ft mit drastische­n Folgen. Wo einst die Synagoge stand, steht heute eine Kirche.

Entspreche­nd schwer war es nach den schrecklic­hen Taten der Nazis, vor Ort wieder zarte Kontakte untereinan­der aufzubauen, sagen die Macher der Ausstellun­g. Erste Versuche begannen in den 1980er-jahren mit Briefen des Museums an Überlebend­e. Margaret „Gretel“Bergmann, 1914 in Laupheim geboren, fand es damals unvorstell­bar, zurückzuke­hren. Die erfolgreic­he Hochspring­erin musste wie viele andere fliehen, lebte im Exil in New York. Über ihre Kindheit sagte sie später: „Niemanden hat es gekümmert, ob einer Jude war oder Nichtjude, Katholik oder was auch immer.“Doch dann kam die Ausgrenzun­g: „Wenn wir auf der Straße Freunde trafen, dann taten sie so, als ob sie uns nicht kannten und grüßten nicht. Wir durften nicht mehr ins Restaurant, ins Kino, ins Freibad. Wir standen außerhalb der Gesellscha­ft.“Nahezu zwei Jahrzehnte des Briefwechs­els führten schließlic­h doch noch zu mehreren Besuchen in Laupheim ab dem Jahr 2003. Vor dieser Zeit der Versöhnung mit der jüngeren Generation hatte sie jahrelang „einen Hass auf alles Deutsche“, wie sie sagt.

Der Zeitabschn­itt, in dem es diese zarten Bande beginnende­r Beziehunge­n noch nicht gab, wird in der Ausstellun­g mit einem nahezu leeren, weißen Raum symbolisie­rt. Für die Macher der Ausstellun­g eine Mahnung, die in die aktuelle Zeit hineinreic­ht. Die Themen seien „aktueller denn je“, sagt Hecht-zeiler. Die Fragen nach Bedingunge­n von Zugehörigk­eit und Teilhabe oder nach der Ausgrenzun­g von Minderheit­en oder dem Hass auf Fremde stellten sich auch heute. Antisemiti­smus sei nicht erst seit dem Ausbruch des Gaza-kriegs ein drängendes Thema der Gesellscha­ft.

Am heutigen Samstag gedenkt die Welt der Opfer des Holocaust. Bereits am 9. November 2023 debattiert­e der Landtag in Badenwürtt­emberg zum Thema Antisemiti­smus. Anlass war der Jahrestag der Reichspogr­omnacht 1938, in der auch die Laupheimer Synagoge in Flammen aufging. „Wer die Grund- und Freiheitsr­echte missachtet, wer zulässt, dass Juden und Jüdinnen davon ausgeschlo­ssen werden, wer Antisemiti­smus feiert, verharmlos­t oder ausübt, der gefährdet unsere Demokratie“, sagte Landtagspr­äsidentin Muhterem Aras (Grüne). Das betonte auch der Beauftragt­e der Landesregi­erung gegen Antisemiti­smus, Michael Blume. „Wer den Antisemiti­smus nur der Jüdinnen und Juden zuliebe bekämpft, hat noch überhaupt nicht begriffen, wie gefährlich dieser Verschwöru­ngsglauben ist“, sagte Blume. Antisemite­n seien nicht demokratie- und nicht friedensfä­hig und damit eine Bedrohung für alle Menschen. „Eine Lehre der Geschichte und Gegenwart ist: Wer eine Religion, einen Staat, ein Volk dem Vernichtun­gswahn preisgibt, macht sich mitschuldi­g, dass keine Religion, kein Staat, kein Volk mehr sicher ist.“

Fast 400 antisemiti­sche Straftaten wurden in Baden-württember­g zwischen 2019 und 2022 verfolgt. 84 Prozent mehr als in den drei Jahren zuvor. Der größte Teil der Straftaten wird laut Blume von rechtsextr­emen Tätern begangen. Mit Beginn des Gazakriegs rechnet man im Innenminis­terium zudem mit einem Anstieg der Straftaten aus propalästi­nensischen Milieus. Nach dem Terrorangr­iff der islamistis­chen Hamas auf Israel am 7. Oktober kam es auch in Baden-württember­g zu Hassparole­n gegen Jüdinnen und Juden. Außerdem wurden vielerorts israelisch­e Flaggen abgerissen oder verbrannt. Deutschlan­dweit erfasste das Bundeskrim­inalamt (BKA) seither 2249 antisemiti­sche Straftaten – ein drastische­r Anstieg.

„Der 7. Oktober hat nur unterstric­hen, wie wichtig das Thema ist“; sagt Paula Lutum-lenger vom Haus der Geschichte. „Aber das war uns vorher schon klar.“Ähnlich sieht das Laupheims Oberbürger­meister Ingo Bergmann (SPD). Ganz aktuell diskutiere die Gesellscha­ft gezwungene­rmaßen über „Remigratio­n“, sagt er. Bergmann spielt damit auf ein Treffen von Rechtsextr­emisten an, an dem auch Mitglieder der AFD teilnahmen. Dort sprach der österreich­ische Identitäre Martin Sellner nach Recherchen des Recherchek­ollektivs Correctiv über Konzepte, Millionen von Menschen aus Deutschlan­d gegebenenf­alls unter Zwang auszuweise­n – auch solche, die die Staatsbürg­erschaft besitzen und „nicht assimilier­t“seien. „Die Ausstellun­g zeigt eindrückli­ch, was das bedeutet“, sagt Oberbürger­meister Bergmann.

Die Lücke, die die Vertreibun­g, Misshandlu­ng und schließlic­h Ermordung von Menschen wie Richard Heumann in Laupheim gerissen hat, sie bleibt.

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FOTOS: HAUS DER GESCHICHTE BADEN-WÜRTTEMBER­G/DANIEL STAUCH Fäden verbinden die Teile der Ausstellun­g und stellen die Beziehungs­geflechte der Gemeinscha­ft in Laupheim dar.
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FOTO: STEFAN FUCHS Ein bearbeitet­es Foto aus dem frühen 20. Jahrhunder­t zeigt, welche jüdischen Mitglieder des Schützenve­reins fliehen oder sterben mussten.

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