Mit aller Kraft zurück
Russische Theater sollen künftig Wladimir Putins „traditionelle Werte“in Szene setzen – Droht nun die Rückkehr zur sowjetischen Zensur?
- Es gibt noch Frechheiten auf Moskaus Bühnen. Etwa das Schauspiel „Wie wir Jossif Wissarionowitsch beerdigten“des unabhängigen Teatr.doc: Ein alternder Starregisseur und seine Truppe mühen sich, den Tod Josef Stalins zu inszenieren. Der Regisseur selbst spielt den Genossen Stalin, aber wie das Gefolge des sterbenden Generalissimus beginnt auch seine Truppe zu intrigieren. Außerdem mischen sich das Kulturministerium und sogar der amtierende Staatschef ein. Er fordert, man müsse die Handlung umschreiben: „Es ist nicht gut, sagte der Präsident, dass der Protagonist im Sterben liegt. Der Tod hat auf der Bühne nichts zu suchen“, verkündet ein Mann aus dem Kulturministerium der verdatterten Truppe. „Die Geburt muss auf die Bühne.“
Auch im realen Leben wollen inzwischen die Leute aus dem Ministerium im Namen Wladimir Putins bestimmen, was auf die Bühne gehört. Seit einigen Tagen erhalten die staatlichen Theater Russlands Briefe des Kultusministeriums. Es fordert sie auf, ihre Bühnenstücke künftig gemäß den „traditionellen geistig-moralischen Werten“zu inszenieren, die Wladimir Putin in einem Erlass im November 2022 aufzählte: „Leben, Würde, Recht und Freiheit des Menschens, Patriotismus“, „Dienst am Vaterland, hohe moralische Ideale, starke Familie“, „Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen, Barmherzigkeit, Kollektivismus“oder „Einheit der Völker Russlands“. Ein Sammelsurium aus allgemeinmenschlichen oder christlichen Werten, Sowjetparolen und Worthülsen, die als Regelwerk für eine neue Theatertradition nicht wirklich taugen.
Der Theaterszene schwant Böses. Auch in den klassischen Dramen von Anton Tschechow oder Nikolai Gogol spielen niedrige moralische Werte, Habgier, Selbstsucht, Dummheit oder eheliche Untreue eine oft dominante Rolle. Schon Anfang 2022 hatte Alexander Kaljagin, der politisch eigentlich linientreue Gründer des Moskauer Theaters Et Cetera, in einem Brief gegen einen Entwurf des späteren Putin-erlasses aus dem Kulturministerium protestiert: „Wie aus dem Text hervorgeht, ist alles, was die traditionellen Werte nicht stützt, überf lüssig und zu verbieten.“Die Intendanten der wichtigsten russischen Theater, darunter auch des Bolschoi Theaters, stellten sich mit ihren Unterschriften hinter seinen Protest. Vergeblich, wie sich jetzt herausstellt.
Das experimentelle Gogol-zentrum wurde dichtgemacht, sein Leiter, der international gefeierte Regisseur Kirill Serebrennikow, ein bekennener Schwuler, ist emigriert. Die junge Regisseurin Jewgenija Berkowitsch und ihre Dramaturgin Swetlana Petrijtschuk landeten wegen angeblicher Rechtfertigung von Terrorismus in U-haft.
Aber vor allem Hauptstadtbühnen verteidigen noch Freiräume. Auch in etablierten Häusern wie dem Tschechow-kunsttheater gibt es Aufführungen, die massiv auf das Leid des Krieges anspielen. „Einige hochtalentierte Regisseure pressen sich Lippenbekenntnisse zu Putins ,Spezialkriegsoperation’ ab“, sagt eine Theaterjournalistin anonym. „Damit man sie und ihre Truppe in Ruhe arbeiten lässt.“
Aber jetzt wollen Putins Kulturfunktionäre auch dem ein Ende setzen, so die Kritikerin Marina Dawydowa gegenüber dem Telegram-kanal Moschem Objasnit: „Sie werden alles Lebendige, was auf der russischen Bühne übrig geblieben ist, suchen, finden und vernichten.“Russlands Theater droht die Rückkehr zur sowjetischen Zensur. Damals entschieden kommunistische Apparatschiks,
ob ein Stück genügend Parteitreue, Siegeszuversicht und Patriotismus besaß, um aufgeführt zu werden.
Im Teatr.doc aber geht es auf mehreren Handlungsetagen drunter und drüber. Statt Stalin ordentlich zu beerdigen, versuchen die Schauspieler, die Nikita Chruschtschow und Lawrentij Berija darstellen, gegen ihren Regisseur zu rebellieren. Sie werden von ihrem selbstherrlichen Chef, der sich immer mehr wie Stalin selbst aufführt, eingesperrt, bereuen öffentlich, schwärzen die Hauptdarstellerin an, die den Regisseur mit Maskenbildern und Musikern betrogen hat. Es ist ein rasantes, aber vaterlandsloses Spektakel, sein Personal voller Missgunst, Egoismus und ohne jegliche hohe geistige Ideale.
Putins traditionelle Werte kommen eindeutig zu kurz. Man sei hier am Theater, hier könne alles in einer Minute wieder veraltet sein, verkündet der gerissene Stalin-regisseur: „Wenn wir merken, dass es nicht gut läuft, bin ich der Erste, der sagen wird: Mit aller Kraft zurück!“
Das Publikum im Teatr.doc lacht, es lacht viel, bis zum Ende. Da verkündet der Mann aus dem Ministerium, der Präsident würde das Stalin-stück gern persönlich inszenieren. Auch dem Teatr.doc dürfte der harte Griff der Staatsmacht drohen.