Jetzt sollen die Rentner ran
Wenn die Babyboomer bald in Ruhestand gehen, fehlen dem Arbeitsmarkt noch mehr Kräfte
- Die Gesellschaft altert: Wenn die Generation der Babyboomer bald in Rente geht, fehlen dem ohnehin gebeutelten Arbeitsmarkt noch mehr Kräfte. Manche Mitarbeiter, die in Ruhestand gehen wollen, würden von ihren Arbeitgebern schon heute darum gebeten, länger im Betrieb zu bleiben, sagt Maria Amtmann. Sie ist Leiterin der Arbeitsagentur Kempten-memmingen. Auch diese Behörde hat die Ruheständler und Arbeitnehmer im Alter von 60 plus neu für sich entdeckt: Jetzt fand erstmals eine Infoveranstaltung statt. Gezielt wurden dabei Menschen adressiert, die auch im Rentenalter sich noch beruflich engagieren wollen. Fast 130 Interessierte waren bei den Vorträgen dabei.
Seit 2023 gelten für arbeitende Rentner vereinfachte Bedingungen, hieß es bei der Veranstaltung. Altersrenten können seitdem auch bei einem Zuverdienst in voller Höhe bezogen werden. Es sei unerheblich, wo das Geld verdient wird. Also ob etwa in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Auch die Höhe des Einkommens ist nicht relevant – die sogenannte Hinzuverdienstgrenze fiel mit der Gesetzesänderung weg. Einschränkungen gibt es allerdings unter anderem noch bei Beziehern von Witwenrenten. Bestehen bleiben würden bei einem Gehalt die Abgaben zur Sozialversicherung.
Laut Statistischem Bundesamt werden in den 2060er-jahren mehr als 45 Rentner auf 100 Erwerbstätige kommen. In den 1990er-jahren war das Verhältnis noch 20 zu 100. Das deutsche Rentensystem stößt mit den Jahren also an seine Grenzen. Ohne Zuwanderung und eine steigende Erwerbsquote würde die Zahl der
Personen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, bis 2035 um über sieben Millionen Menschen sinken, hieß es dazu jetzt bei der Infoveranstaltung in Kempten.
Viele Menschen kurz vor der Rente seien sich jedoch nicht sicher, ob und in welchen Betrieben sie Chancen auf Arbeit haben. So ergeht es auch einer 61jährigen Allgäuerin, die den Vorträgen in Kempten zugehört hat: Sie wolle unbedingt noch arbeiten, sei derzeit aber erwerbslos, sagte sie. Obwohl sie als Bürokauffrau gut ausgebildet sei, bekomme sie auf ihre Bewerbungen nur Absagen. Das sei frustrierend. Durch die digitalen Lösungen vieler Bewerbungsportale sei das Zwischenmenschliche verloren gegangen. Vorurteile gegenüber
der Altersgruppe 50 plus müssten dringend abgebaut werden. „Wir sind doch Fachkräfte“, sagte die Allgäuerin.
Nicht leicht fällt es auch zwei Männern, die sich bei der Infoveranstaltung umhörten, einen passenden Job zu finden. Früher waren sie Kollegen, haben zusammen in einer Schicht gearbeitet. Doch als ihr Unternehmen im Zuge der Corona-pandemie in die Pleite rutschte, seien sie arbeitslos geworden, erzählten sie. In ihrem Alter, beide sind über 60, komme nicht mehr jede Aufgabe in Frage. Zudem seien sie körperlich von der jahrelangen Schichtarbeit gezeichnet. Teilweise handle es sich bei den Jobvorschlägen der Arbeitsagentur um Stellen, die nicht gut bezahlt seien, sagten sie. Eine Arbeit sei für
sie aber nur interessant, wenn sie sich auch lohne.
Im Bereich der Arbeitsagentur Kempten-memmingen ist es laut Leiterin Amtmann bereits zu messen, dass die Zahl der arbeitenden Rentner steigt. Zum letzten Stichtag im Juni 2023 waren in dem Bezirk etwa 3200 Menschen über der Regelaltersgrenze sozialversicherungspflichtig und über 11.700 geringfügig beschäftigt, sagt Maria Amtmann. Gegenüber dem Vorjahresstichtag sei das ein Anstieg von über 200 Personen. Ein Teil von ihnen sei auf den Zuverdienst neben der Rente angewiesen. Vor allem betreffe das Frauen, die etwa wegen der Betreuungszeit für ihre Kinder viel in Teilzeit gearbeitet hätten.
Damit das Rentensystem in Deutschland nicht kippt, hat das
Ifo-wirtschaftsinstitut kürzlich für eine Reform plädiert. Sein Vorschlag: das Rentenalter an die Lebenserwartung koppeln. So werde es etwa in den Niederlanden, Finnland und Schweden bereits praktiziert. Steigt in den Niederlanden die Lebenserwartung um drei Jahre, dann müssen die Menschen dort zwei Jahre länger arbeiten. So bleibe das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen stabil.
Bevor die Teilnehmer der Kemptener Veranstaltung in die Gesetzeswelt der Rentenbezüge eingewiesen wurden, hat sie Agenturleiterin Amtmann als attraktive Arbeitnehmer gepriesen: Die Generation gelte als leistungsfähig und „sehr zuverlässig“. Im Publikum sorgte das für ein zustimmendes Nicken.