100 Verhandlungstage und kein Urteil in Sicht
Münchner Wirecard-prozess zieht sich – Anwalt von Ex-vorstandschef Braun wirft Richter Verschleierung vor
(dpa) - Der Münchner Wirecard-prozess entwickelt sich zuungunsten des früheren Vorstandschefs Markus Braun. Die Verteidigung des seit über dreieinhalb Jahren in Untersuchungshaft sitzenden Managers stellte am Mittwoch im Namen Brauns einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Markus Födisch und seine zwei Beisitzer. Verteidiger Nico Werning wollte den Befangenheitsantrag im Saal vorlesen, der Vorsitzende lehnte das jedoch ab. „Die Art und Weise, wie Sie hier die Verfahrensgänge verschleiern, spottet jeder Beschreibung“, beschuldigte Werning anschließend den Vorsitzenden. „Sie wollen einfach nicht, dass die Öffentlichkeit erfährt, was hier geschieht.“
Auslöser der heftigen Auseinandersetzung war die Entscheidung der Kammer, den Haftbefehl gegen den Mitangeklagten und Kronzeugen Oliver Bellenhaus außer Vollzug zu setzen. Damit ist Braun der einzige der drei angeklagten Manager, der noch in Untersuchungshaft sitzt.
Nach nunmehr 14 Monaten und 100 Prozesstagen ist in dem Verfahren um den mutmaßlich größten Betrugsfall in Deutschland seit 1945 nach wie vor kein
Urteil in Sicht. Doch sowohl Brauns als auch Bellenhaus' Verteidiger sehen in der Freilassung des Kronzeugen ein Zeichen, in welche Richtung sich der Prozess entwickelt. Bellenhaus' Anwalt Florian Eder sprach vor dem Gerichtssaal von einer „Zeitenwende“. Werning warf den Richtern in einer Verhandlungspause vor, sich auf eine Version festgelegt zu haben. „Eine Version“bedeutet in diesem Fall: Bellenhaus' Darstellung, nicht diejenige Brauns.
Der Wirecard-prozess fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen: Nicht nur der Anklagevorwurf, dass in der Chefetage eines Dax-konzerns eine Betrügerbande am Werk war, ist außergewöhnlich. Der Betrugsschaden
für geprellte Kreditgeber könnte sich auf die immense Summe von drei Milliarden Euro belaufen.
Ungewöhnlich ist auch, dass zwei angeklagte Manager im Gerichtssaal die Vorgänge derart gegensätzlich schildern wie Braun und Bellenhaus. Der Kronzeuge hat den Großteil der Vorwürfe eingeräumt und Braun als Mittäter angeschuldigt. Der frühere Vorstandschef und seine Anwälte bestreiten nicht, dass bei Wirecard Kriminelle am Werk waren. Doch nach Darstellung seiner Verteidiger schafften der seit 2020 untergetauchte frühere Vertriebsvorstand Jan Marsalek, Bellenhaus und Komplizen über ein Gef lecht von Schattenf irmen real existierende Milliarden aus echten Geschäften auf die Seite, ohne Wissen oder Beteiligung Brauns. Die Verteidiger beschuldigen Bellenhaus der Lüge. Richter sollen Strafverfahren unvoreingenommen führen, ohne einen Angeklagten zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Der Befangenheitsantrag läuft auf den Vorwurf hinaus, dass die Kammer Braun gegenüber voreingenommen sei. Bereits unmittelbar nach Bellenhaus' Freilassung warf Brauns Hauptverteidiger Alfred Dierlamm der Münchner Justiz einen „schmutzigen Deal hinter verschlossenen Türen“vor.
Das Gericht wies das in einer separaten Stellungnahme zurück: „Eine wie auch immer geartete Verständigung über das Strafverfahren ist in dem Haftprüfungstermin am 05.02.2024 nicht erfolgt. Es wurde allein über die Voraussetzungen des Haftbefehls und die Bedingungen einer Außervollzugsetzung verhandelt.“Bislang ist im Prozess kein Dokument aufgetaucht, das eine Beteiligung Brauns an Betrug zweifelsfrei belegen würde. Auch kein Zeuge hat den Österreicher im Gerichtssaal von Angesicht zu Angesicht beschuldigt, Betrüger gewesen zu sein. Doch viele Zeuginnen und Zeugen zeichnen im Gerichtssaal das Bild eines Unternehmens, in dem es merk- und fragwürdig zuging.