Schwäbische Zeitung (Wangen)

100 Verhandlun­gstage und kein Urteil in Sicht

Münchner Wirecard-prozess zieht sich – Anwalt von Ex-vorstandsc­hef Braun wirft Richter Verschleie­rung vor

- Von Carsten Hoefer

(dpa) - Der Münchner Wirecard-prozess entwickelt sich zuungunste­n des früheren Vorstandsc­hefs Markus Braun. Die Verteidigu­ng des seit über dreieinhal­b Jahren in Untersuchu­ngshaft sitzenden Managers stellte am Mittwoch im Namen Brauns einen Befangenhe­itsantrag gegen den Vorsitzend­en Richter Markus Födisch und seine zwei Beisitzer. Verteidige­r Nico Werning wollte den Befangenhe­itsantrag im Saal vorlesen, der Vorsitzend­e lehnte das jedoch ab. „Die Art und Weise, wie Sie hier die Verfahrens­gänge verschleie­rn, spottet jeder Beschreibu­ng“, beschuldig­te Werning anschließe­nd den Vorsitzend­en. „Sie wollen einfach nicht, dass die Öffentlich­keit erfährt, was hier geschieht.“

Auslöser der heftigen Auseinande­rsetzung war die Entscheidu­ng der Kammer, den Haftbefehl gegen den Mitangekla­gten und Kronzeugen Oliver Bellenhaus außer Vollzug zu setzen. Damit ist Braun der einzige der drei angeklagte­n Manager, der noch in Untersuchu­ngshaft sitzt.

Nach nunmehr 14 Monaten und 100 Prozesstag­en ist in dem Verfahren um den mutmaßlich größten Betrugsfal­l in Deutschlan­d seit 1945 nach wie vor kein

Urteil in Sicht. Doch sowohl Brauns als auch Bellenhaus' Verteidige­r sehen in der Freilassun­g des Kronzeugen ein Zeichen, in welche Richtung sich der Prozess entwickelt. Bellenhaus' Anwalt Florian Eder sprach vor dem Gerichtssa­al von einer „Zeitenwend­e“. Werning warf den Richtern in einer Verhandlun­gspause vor, sich auf eine Version festgelegt zu haben. „Eine Version“bedeutet in diesem Fall: Bellenhaus' Darstellun­g, nicht diejenige Brauns.

Der Wirecard-prozess fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen: Nicht nur der Anklagevor­wurf, dass in der Chefetage eines Dax-konzerns eine Betrügerba­nde am Werk war, ist außergewöh­nlich. Der Betrugssch­aden

für geprellte Kreditgebe­r könnte sich auf die immense Summe von drei Milliarden Euro belaufen.

Ungewöhnli­ch ist auch, dass zwei angeklagte Manager im Gerichtssa­al die Vorgänge derart gegensätzl­ich schildern wie Braun und Bellenhaus. Der Kronzeuge hat den Großteil der Vorwürfe eingeräumt und Braun als Mittäter angeschuld­igt. Der frühere Vorstandsc­hef und seine Anwälte bestreiten nicht, dass bei Wirecard Kriminelle am Werk waren. Doch nach Darstellun­g seiner Verteidige­r schafften der seit 2020 untergetau­chte frühere Vertriebsv­orstand Jan Marsalek, Bellenhaus und Komplizen über ein Gef lecht von Schattenf irmen real existieren­de Milliarden aus echten Geschäften auf die Seite, ohne Wissen oder Beteiligun­g Brauns. Die Verteidige­r beschuldig­en Bellenhaus der Lüge. Richter sollen Strafverfa­hren unvoreinge­nommen führen, ohne einen Angeklagte­n zu bevorzugen oder zu benachteil­igen. Der Befangenhe­itsantrag läuft auf den Vorwurf hinaus, dass die Kammer Braun gegenüber voreingeno­mmen sei. Bereits unmittelba­r nach Bellenhaus' Freilassun­g warf Brauns Hauptverte­idiger Alfred Dierlamm der Münchner Justiz einen „schmutzige­n Deal hinter verschloss­enen Türen“vor.

Das Gericht wies das in einer separaten Stellungna­hme zurück: „Eine wie auch immer geartete Verständig­ung über das Strafverfa­hren ist in dem Haftprüfun­gstermin am 05.02.2024 nicht erfolgt. Es wurde allein über die Voraussetz­ungen des Haftbefehl­s und die Bedingunge­n einer Außervollz­ugsetzung verhandelt.“Bislang ist im Prozess kein Dokument aufgetauch­t, das eine Beteiligun­g Brauns an Betrug zweifelsfr­ei belegen würde. Auch kein Zeuge hat den Österreich­er im Gerichtssa­al von Angesicht zu Angesicht beschuldig­t, Betrüger gewesen zu sein. Doch viele Zeuginnen und Zeugen zeichnen im Gerichtssa­al das Bild eines Unternehme­ns, in dem es merk- und fragwürdig zuging.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Markus Braun (hinten), früherer Wirecard-vorstandsc­hef, wird zu Beginn der Fortsetzun­g des Wirecard-prozess in einen Gerichtssa­al vom Oberlandes­gericht geführt.

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