Warum Demos auf dem Land zunehmen
Weingartener Soziologe erkennt neue Protestkultur in Kleinstädten und Dörfern
- Noch nie hat es in Oberschwaben so große Proteste gegeben. In Bad Waldsee und Leutkirch demonstrierten Anfang des Jahres rund 1000 Menschen gegen rechts, in Wangen waren es an die 2500, in Ravensburg mehr als 8000. Dass so viele Menschen im ländlichen Raum auf die Straße gehen, kennt man in der Region nicht.
Auch für den Soziologen Andreas Lange, der an der Hochschule Ravensburg-weingarten lehrt, ist das ein neues Bild. Er spricht sogar von einer neuen Protestkultur.
Früher wurden Proteste hauptsächlich von Menschen getragen, die von einer Demonstration zur nächsten gegangen sind, wie Lange erklärt. Quasi Berufsdemonstranten, wenn man so will. „Sie haben das teils permanent gemacht. Es gab eine aktive Protestkultur.“Ein prominentes Beispiel ist die Anti-atomkraft-bewegung, die sich Mitte der 1970er-jahre gebildet hat. Groß demonstriert wurde allerdings nicht in Oberschwaben – sondern an angedachten Standorten für Kernkraftwerke, wie etwa in Wyhl am Kaiserstuhl oder in Öpfingen an der Donau oder in Großstädten.
Diese Form des Protests hat sich aus Sicht von Andreas Lange verändert. „Heute ist es so, dass die Protestformen kürzer sind, intensiver und mit viel mehr Empörung“, so die Beobachtung des Soziologen. Hinzu komme, dass die Menschen heute schneller und leichter über die sozialen Medien erreicht und mobilisiert würden. Das spiegelt sich auch hier in der Region wider.
Auf der Plattform Telegram beispielsweise vernetzen sich Menschen aus Oberschwaben und planen verschiedene Aktionen, darunter beispielsweise die ukrainische Gemeinschaft im Kreis, die seit 2022 wiederholt zu Versammlungen für Frieden und gegen den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine aufgerufen hat. Am Samstag, 24. Februar, genau zwei Jahre nach Kriegsbeginn, soll in Ravensburg eine weitere Demo stattfinden. Auch Landwirte in der Region nutzen aktuell Messenger wie Whatsapp, um Informationen zu geplanten Protestfahrten und Mahnfeuern zu verbreiten.
In oberschwäbischen Kommunen fanden in den vergangenen vier Jahren erstmals überhaupt Demonstrationen statt. Um ein paar Beispiele zu nennen: Im April 2021 versammelten sich in Wolfegg rund Hundert Menschen gegen die geplante weitere Kiesgrube im Altdorfer Wald. Ein Jahr später in Unterankenreute waren es um die 170 Personen, die gegen Kiesabbau demonstrierten. Erstmals erlebte die Region auch Baumbesetzungen als eine Form von Protest. Klimaaktivisten kletterten seit 2020 schon mehrmals auf Bäume in Ravensburg. Seit 2021 besetzen sie das Waldstück bei Grund nahe Vogt, das für eine weitere Kiesgrube gerodet werden soll. Zuletzt fanden auch mehrere Proteste von Landwirten gegen die aktuelle Politik in kleineren Gemeinden im Kreis statt, wie in Baindt mit rund 600 Teilnehmern, eine der größten Veranstaltungen im ländlichen Teil Oberschwabens. Blitzenreute, ein Teilort von Fronreute, erlebte
am 16. Februar seine erste Demo. Dort gingen 500 Menschen gegen rechts auf die Straße. Konkrete Zahlen darüber, inwieweit Demonstrationen in der Region zugenommen haben, kann das Landratsamt als eine Genehmigungsbehörde neben den großen Kreisstädten Ravensburg und Wangen nicht nennen. „Was wir sagen können ist, dass die Anzahl der Anmeldungen in den vergangenen circa drei Jahren deutlich angestiegen ist“, schreibt eine Sprecherin auf Anfrage.
Einen weiteren Grund für die Entwicklung sieht Soziologe Andreas Lange in der Durchmischung der Bevölkerung. Die Mentalität der Menschen in ländlichen Gebieten wie Oberschwaben sei inzwischen ähnlich zu der in Städten. Wenn also zu Demos in Städten aufgerufen wird, gibt es mitunter Mitbürger mit ähnlichen Überzeugungen auf dem Land, die für oder gegen dieselbe Sache demonstrieren wollen.
Lange beobachte, dass zwar mehr Bürger in der Region bereit seien, sich kurzerhand an Protesten anzuschließen oder selbst in ihrer Gemeinde eine Veranstaltung zu organisieren, es sei jedoch fraglich, wie lange die Phase anhalte.
Aktuell werden massenhaft Bilder von Demos auf diversen Internetplattformen wie Instagram und Tiktok geteilt. Viele aktive Nutzer, auch aus der Region, posten Videos und Fotos von Demos auf ihrem Profil oder in ihrer Story. Das kann laut Andreas Lange andere wiederum motivieren, sich selbst anzuschließen. Das erkennen auch immer mehr Veranstalter von Kundgebungen. „Wenn man versteht, das Visuelle zu bedienen, hat man schon die halbe Miete“, sagt Lange.
„Wir sind in einer Kultur, in der das Textuelle an Bedeutung verliert und das Visuelle an Bedeutung gewinnt.“Eine Zeitung sei kognitiv hoch anspruchsvoll, benötige viel Vorwissen, während über Instagram Informationen möglichst kurz und einfach gestreut werden, „im Guten wie im Schlechten“.