Mut zu unpopulären Maßnahmen
Julian Nagelsmann kündigt nach der Personalie Toni Kroos harte Em-entscheidungen an
(SID) - Die Rückkehr von Toni Kroos, die neue, alte Position für Joshua Kimmich, die Spielidee – bei seinen Em-plänen hat Julian Nagelsmann seinen früh verstorbenen Vater immer im Hinterkopf. „Er war mutig“, sagte der Bundestrainer in einem tiefgründigen, offenen Interview mit dem „Spiegel“. Von diesem Mut, berichtete Nagelsmann, wolle er sich leiten lassen – und auch vor unpopulären Maßnahmen nicht zurückschrecken.
„Es wird bestimmt der eine oder andere nicht nominiert werden, von dem viele denken, der sei sicher dabei“, kündigte der Bundestrainer knapp vier Monate vor dem Eröffnungsspiel harte Em-personalien an. Diese will er gnadenlos konsequent durchziehen – wie es ihm sein Vater, der für den Bundesnachrichtendienst arbeitete, einst vorgelebt habe. „Er musste im Beruf immer wieder Entscheidungen treffen in dem Bewusstsein, dass der ganze Plan auch in die Hose gehen konnte“, sagte er. „Das Schlimmste im Leben ist, wenn man keine Entscheidungen trifft.“
So geht Nagelsmann ran und baut die seit Jahren darbende Nationalmannschaft um: Mit Rückkehrer Kroos, der beim Start ins Em-jahr mit den März-länderspielen in Frankreich und gegen die Niederlande als neuer Fixpunkt sein Comeback geben wird, verändert er die Hierarchie. Mit der Entscheidung, Kimmich nach rechts hinten zu schieben, verändert er
die Statik seiner Elf. Zugleich will er ihr mit mehr „Workern“im Stile eines Pascal Groß Mentalität einimpfen. Und sie viel pragmatischer spielen lassen.
Das kann schiefgehen und die Heim-em zum Desaster werden. Doch Nagelsmann ist furchtlos – auch, weil er früh gelernt hat, ins Risiko zu gehen. Er war gerade einmal 20, als sich sein Vater das Leben nahm. „Wenn man dann entscheiden muss, ob man das Elternhaus verkauft oder nicht, damit es der Mama wieder besser geht“, erzählte Nagelsmann, dann kann man auch einem Joshua Kimmich erklären, dass er sich als „ein Diener für sein Land“unterordnen müsse.
Und so traute sich Nagelsmann auch eine überraschend offene Ansage an die Fußball-nation. „Die Anationalmannschaft liegt seit Jahren sportlich am Boden. Da war zuletzt nichts dabei, was die Hoffnung nähren könnte, dass wir ins
Halbfinale kommen“, sagte er über das von Dfb-präsident Bernd Neuendorf vorgegebene Turnierziel. „Wir müssen unser Statusdenken abstellen. Wir reden uns ein, Deutschland sei eine Top-fußballnation, obwohl wir seit Jahren Misserfolge erleben.“
Das ist schlau. Wer den viermaligen Weltmeister auf einer Ebene mit Außenseitern verortet, kann auch so Fußball spielen lassen. Nagelsmann hat seine Idee, möglichst viele Zauberfüße auf den Platz zu bringen, deshalb ad acta gelegt. Mehr Leidenschaft, schärfer verteidigen – das ist der neue Ansatz. „Wir müssen endlich anfangen, Fußball wieder zu arbeiten“, forderte er.
Dafür braucht er Stratege Kroos – als Dirigent, an den sich das Orchester der Hochtalentierten anlehnen kann. „Ich stelle mich gerne noch mal in diesen Wind“, sagte der Rückkehrer. Und ergänzte im Sinne Nagelsmanns, man brauche aber nicht zu glauben, „dass wir durch diesen Kniff zum Favoriten würden“. Nagelsmann glaubt, die Routine und Erfahrung des 34-Jährigen werde gerade in kritischen Turniermomenten helfen. Als Verbindungsspieler im Mittelfeld passe Kroos überdies „perfekt in das Team, das wir im Kopf haben“.
Formen will Nagelsmann seine EM-ELF nach dem Vorbild der Basketball-weltmeister, bei denen er eine „klare Rollenverteilung“beobachtet hat. Diese, betonte er, „werde ich übernehmen. Es ist hilfreich, wenn jeder Spieler ganz genau weiß, woran er ist.“