Schwäbische Zeitung (Wangen)

Schwerbehi­ndert und glücklich im Job

Zwei Menschen mit Handicap erzählen, wie sie bei der Stadt Ravensburg ihre Traumberuf­e fanden

- Von Verena Jäger

- Der Fachkräfte­mangel trifft auch die Region Ravensburg. Ein Ansatz, um die Fachkräfte­lücke zu verringern, ist die bessere Inklusion von Schwerbehi­nderten auf dem Arbeitsmar­kt. Doch oft werden sie nicht eingestell­t, offenbar auch aus Angst, sie nicht mehr kündigen zu können. Zwei schwerbehi­nderte Mitarbeite­r der Stadt Ravensburg erzählen von ihrem Arbeitsall­tag, um mit Mythen aufzuräume­n und Mut zu machen – sowohl Schwerbehi­nderten auf Jobsuche als auch zögerliche­n Arbeitgebe­rn.

Mit fast schlafwand­lerischer Sicherheit nimmt Ahmad Zeiter die Treppen in sein Büro im ersten Stock. Dass er seit seiner Geburt sehbehinde­rt ist, merkt man ihm nicht an. Der 27-Jährige ist geübt darin, sich Gebäude und Wege einzupräge­n. Zwar ist er nicht völlig blind, er sieht etwa 10 bis 15 Prozent, allerdings bewegt sich für ihn alles vor seinen Augen, sie können keinen Fokus finden.

Zeiter stammt aus Syrien. Seine Eltern, beide Lehrer, legten Wert auf Bildung. Auf einem Internat in Aleppo legte er sein Abitur ab. 2016 f loh er 20-jährig und alleine vor dem Krieg nach Deutschlan­d. Über Sigmaringe­n und Baienfurt kam er 2020 nach Ravensburg. Da sein Abitur nicht anerkannt wurde, holte er an der Abendschul­e die Mittlere Reife nach. Mit seiner Bewerbung um eine Ausbildung zum Verwaltung­sfachanges­tellten bei der Stadt Ravensburg hatte er Erfolg. Im Vorstellun­gsgespräch habe er seine Sehbehinde­rung offen angesproch­en. „Wir probieren es einfach“, habe seine Ausbildung­sleiterin gesagt und ihm beim Eignungste­st die Fragen, die normalerwe­ise schriftlic­h beantworte­t werden, vorgelesen. Für diese Unterstütz­ung war er dankbar,

aber dass man ihm den Test aus Mitleid komplett erspart, das hätte er nie gewollt.

Im Juli 2023 schloss Zeiter seine Ausbildung ab und arbeitet seither als Hausleiter für Obdachlose­nund Flüchtling­sunterkünf­te im Amt für Bildung, Soziales

und Sport. Was ihm seine Arbeit erleichter­t, ist, dass fast alle Dokumente, die er benötigt, digitalisi­ert wurden. Manchmal, erzählt er, vergessen seine Kollegen, dass er nicht sehen kann. „Dann sagen sie: ,Ahmad, lies mal diese Mail, was sagst du dazu?’“Erst wenn

dann seine Sprachausg­abefunktio­n den Text vorliest, falle es ihnen wieder ein.

„Herr Zeiter ist hoch motiviert“, sagt Tanja Nagel, Hauptamtsm­itarbeiter­in und städtische Inklusions­beauftragt­e. Die Stadt Ravensburg hat Anfang

2024 einen Aktionspla­n veröffentl­icht, erzählt Nagel. Dieser umfasst beispielsw­eise Workshops für Führungskr­äfte, Arbeitspla­tzbegehung­en, Teilzeitmo­delle für die Ausbildung und Gesundheit­spräventio­n. „Wir sind froh, dass wir Menschen mit Schwerbehi­nderung beschäftig­en. Sie sind eine absolute Bereicheru­ng.“

Ahmad Zeiter ist einer von etwa 7,6 Millionen Menschen in Deutschlan­d mit einem Schwerbehi­ndertenaus­weis. So wie auch Wolfgang Bär, der von Geburt an gehbehinde­rt ist. Seinen Job beim Stadtplanu­ngsamt nennt der 60-Jährige einen „Sechser im Lotto“. Bis es dazu kam, musste er jedoch viele Rückschläg­e meistern.

Bär stammt aus Ettlingen bei Karlsruhe. Nach seinem Hauptschul­abschluss an einer Schule für Körperbehi­nderte suchte er in seiner Heimat vergebens einen Ausbildung­splatz. Im Kreis Ravensburg wurde er fündig, zog nach Bad Waldsee und lernte am Körperbehi­ndertenzen­trum Oberschwab­en (KBZO) den Beruf des technische­n Zeichners.

1986, nach der Ausbildung, begann für Wolfgang Bär eine lange Phase, in der er sich von einer Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahme zur nächsten hangelte. Im Bewerbungs­gespräch sei ihm gesagt worden: Wenn der Kündigungs­schutz nicht wäre, würde ich Sie einstellen. „Es hat mich frustriert, nicht wenigstens eine Chance zu bekommen“, sagt Bär.

Nur 57 Prozent der Schwerbehi­nderten in Deutschlan­d, aber 82 Prozent der Nichtbehin­derten, sind erwerbstät­ig – und das, obwohl Schwerbehi­nderte überdurchs­chnittlich gut ausgebilde­t sind. Häufig stehen laut Agentur für Arbeit Konstanz-ravensburg Fehlinform­ationen der Arbeitgebe­r einer Einstellun­g im Weg. Ein verbreitet­er Irrglaube laute: Wer einen Schwerbehi­nderten einstellt, bekommt ihn nie wieder los.

Wolfgang Bär bekam seine Chance im November 2015 beim Stadtplanu­ngsamt Ravensburg. Nach sechs Wochen Probezeit und einem Jahr Befristung erhielt Bär mit knapp 55 Jahren die erste unbefriste­te Anstellung seines Lebens. Auch besitzt Bär, der mit Frau und Tochter in Ravensburg lebt, zum ersten Mal ein Auto, das größtentei­ls von der Rentenvers­icherung bezahlt wurde.

Seinen Arbeitsall­tag kann er trotz Rollstuhl weitestgeh­end alleine bestreiten. Zur Behinderte­ntoilette fährt er mit dem Aufzug. Seine Kollegen seien allesamt hilfsberei­t. Das sei im Alltag leider nicht immer so, erzählt Bär, der sich manchmal respektlos behandelt fühlt, etwa wenn er im Bus von Fremden geduzt wird. „Die Behinderun­g ist nicht das Schlimmste“, sagt er, „sondern die Art, wie Leute teilweise mit einem umgehen.“

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FOTOS: VERENA JÄGER Handbeschr­iftete Akten befinden sich zwar noch in seinem Büro, aber Ahmad Zeiter arbeitet ausschließ­lich mit digitalisi­erten Dokumenten.
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Wolfgang Bär, von Geburt an gehbehinde­rt, an seinem Arbeitspla­tz im Stadtplanu­ngsamt Ravensburg.

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